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DIE ZEIT/Literatur, Nr.42, 12.Oktober 1973, S.17

Titel "Seelen unter dem Mikroskop ‒ Ein Hommage für Nathalie Sarraute"

© 1973 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

  

 

Seelen unter dem Mikroskop

Von Dieter E. Zimmer

  

DER KOMPARATIV zu "neu" heißt zuweilen "älter". Was in den 1950er Jahren als der Neue Roman auftrat, dazu bestimmt, dem guten alten, dem realistischen Roman mit seinen zweifelhaft gewordenen "lebensechten" Charakteren und konfektionierten Handlungen den Garaus zu machen, ist in den Jahren seither keineswegs neuer geworden, und wenn daraus etwas zu lernen ist, so dies: daß die ganze Vorstellung einer linearen literarischen Entwicklung nichts taugt.

Bestechend, fast unentrinnbar bestechend ist sie schon: daß da eine "Avantgarde" besonders origineller und findiger Literaten das Terrain rekognosziert, gefolgt von dem großen Heerhaufen, der das Gebiet in Besitz nimmt, und schließlich den Nachzüglern, die das bereits besetzte Land noch einmal erobern ‒ und die ganze Bewegung geht vorwärts, hin auf ein zwar unbekanntes Ziel, aber hinter den einmal erreichten Stand der Erkenntnis- und Ausdrucksmittel zurückzufallen ist schimpflich. Nur herrscht in der Literatur diese militärische Disziplin nicht; jeder steht zwar in einer Tradition, ob er will oder nicht, aber sie erspart es keinem, für sich die Literatur quasi ganz neu erfinden zu müssen.

Es berührt sonderbar, heute die frühen Manifeste des Neuen Romans wiederzulesen, etwa die berühmtesten von ihnen, die in dem Band Zeitalter des Argwohns gebündelten vier Essays von Nathalie Sarraute. Sonderbar, weil sich heute aus der Entfernung viel klarer erkennen läßt, daß hier ein sehr persönliches schriftstellerisches Problem, das Mißtrauen gegen das oberflächliche Make-believe konventioneller Romane, zum Epochenmerkmal erhoben wurde. Sonderbar auch, weil die proklamierte Aufbruchsstimmung den allgemeinen großen Aufbruch keineswegs gezeitigt hat und gar die an den Neuen Roman geknüpften politischen Hoffnungen (er würde "die revolutionären Ideen wirksam ausbreiten und unmittelbar zum Siege führen") sich heute, in der Rückschau auf ganz andere gescheiterte Revolutionsversuche, sich geradezu lächerlich ausnehmen.

Aber wie ganz und gar bewunderungswürdig sind diese Essays der Nathalie Sarraute dennoch. Wenn sie 1947, bei der Beschreibung von Dostojewskijs Ewigem Gatten, eindringlich hinweist auf "diese ungeheure bebende Masse (der Seele), deren An- und Abschwellen, deren kaum merkliches Vibrieren der Pulsschlag des Lebens selbst ist", so weiß man heute, daß sie damit ihr eigenes literarisches Programm umrissen hat. Da hatte also diese Pariser Rechtsanwältin russischer Herkunft etwas erkannt, was in dieser Klarheit niemand sonst gesehen hatte, und sie hat inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert darauf verwendet, es näher zu erforschen und den Lesern mitzuteilen; nicht umsonst hat sie von ihrer Arbeit immer als von einer Recherche gesprochen.

Wenn der Neue Roman heute den leichten Ruch einer modischen Pose oder gar Posse hat, so ist das Werk Nathalie Sarrautes weit darüber erhaben (und nicht nur das ihre). Sie hatte ihren Gegenstand gefunden, einen Gegenstand, der sich jeder Widerlegung entzieht, der von keiner, geschichtlichen Entwicklung zu überholen ist, der auf keiner Waage an Gewicht verliert, auch dann nicht, wenn man die soziale Not von ganzen Klassen oder Kontinenten dagegen aufwiegt, und unbeirrt von jeder Mode hat sie daran gearbeitet, diesem Gegenstand den ihm entsprechenden Ausdruck zu geben. Entstanden ist dabei über die Jahre hin ein so enges wie unangreifbares Werk.

Welches ist der Gegenstand Nathalie Sarrautes?

Sie ging aus von der Seelenzergliederung Prousts, jener immensen Anspannung des Gedächtnisses, das vergangene Augenblicke der Erfahrung in ihrer ganzen Komplexität wiederherzustellen suchte; von den Gesprächsromanen der Engländerin Ivy Compton-Burnett, deren endlose, unwirkliche Konversation auf ein unsichtbares Geschehen hinter diesen Dialogen deutet; und von dem inneren Monolog, wie ihn Joyce in der Molly-Bloom-Passage seines Ulysses zur Vollkommenheit entwickelt hatte. Der analytische Blick zurück, das hintergründige Gespräch, der innere Monolog: Nathalie Sarraute erkannte, daß man damit der seelischen Wahrheit nur zu einem Teil habhaft wird. Sie entschied sich, in einer tieferen Schicht nachzuforschen. Es ist jene Schicht, die unterhalb von Gespräch und innerem Monolog liegt, die Schicht, die inneren Monolog und Dialog erst hervorbringt, jenen Tiefenbereich zwischen Gehirnphysiologie und ihren greifbaren Ergebnissen, unseren Gedanken, Worten und Taten, der selber noch sprachlos ist. Sie nannte ihn Sub-Konversation, Infra-Gespräch und später Prä-Dialog.

Da er eben noch ohne Sprache ist, mußte sie die Sicherheit des inneren Monologs, in dem Erzählen und Erzähltes so schön in eins zusammenfallen, wieder aufgeben, mußte sie eine Methode finden, jene infinitesimalen Seelenvorgänge in Sprache zu übersetzen, in eine Metaphernsprache, die sie bis Erkennbarkeit vergrößert. Hier denken und reden Personen, aber wichtiger ist, was in ihnen vorgeht, ehe sie denken und reden; davon erzählt Nathalie Sarraute, und zwar in ihrer Sprache.

Zwei Ergebnisse dieser Recherche frappieren besonders.

Das erste besteht in der Entdeckung, daß es schlechterdings keinen banalen Gegenstand gibt. Banal kann unsere Art und Weise sein, unseren "Inhalt" zu verarbeiten; hierbei ist Banalität sogar mehr oder minder unvermeidlich. Doch die banalsten Lebensäußerungen und Hervorbringungen ‒ die geläufigste Abschiedsfloskel, die trivialste Kitschpostkarte ‒ werden rätselhaft, wenn man sie einem Blick unterwirft wie dem Nathalie Sarrautes und zu fragen beginnt, wovon sie eigentlich ausgelöst wurden und was sie ihrerseits auslösen.

Das zweite Ergebnis ist dieses: In jener Tiefenschicht, in der das Individuum, wie man zunächst annehmen möchte, doch am allerintimsten es selbst ist, lösen sich in Wahrheit die Persönlichkeitsgrenzen auf, zerflattert das, was sich nach außen hin als mehr oder weniger solider Charakter zu präsentieren bemüht, in eine Vielzahl unsteter, flüchtiger, widerspruchsvoller Regungen. Daher gibt es denn auch in den Romanen Nathalie Sarrautes keine Figuren "aus Fleisch und Blut", sondern nur "Stimmen", die nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Manchmal teilt sich eine Person in mehrere Stimmen auf, manchmal fallen die Stimmen mehrerer Personen zu einer zusammen; Gefühltes, Gedachtes, Gesprochenes, Gehörtes, Erinnertes sind kaum unterscheidbar. (Ein weiterer Grund für diese Entindividualisierung ist natürlich der, daß es immer Nathalie Sarraute ist, die diese vor- und halbbewußten Regungen ihrer Figuren in Sprache übersetzt, immer also das metaphorische Reservoir einer einzigen Person.)

Hätte sich Nathalie Sarraute nicht auf ihr eigenes sensibles Hinhören verlassen, sondern auf die Theorien der Psychoanalyse, so bestünde die von ihr zutage geförderte Seelenmaterie wahrscheinlich aus lauter ödipalen Wünschen, Kastrationsängsten, Analgelüsten, Orgasmusversagungen, Klassenabneigungen. So einfach und eindeutig aber geht es hier nicht zu. Nathalie Sarraute führt am liebsten ein paar Menschen jenes Schlags, den sie zufällig am besten kennt, aus dem kunstsinnigen gehobenen Bürgertum, aus nahezu beliebigem Anlaß zusammen und läßt sie ein nahezu beliebiges Gespräch führen, um daran zu demonstrieren, was sich im Hintergrund eines solchen beliebigen Gesprächs tatsächlich ereignet. Es treffen sich ein paar Freunde oder Verwandte, sagen ein paar scheinbar harmlose Worte zueinander; und Nathalie Sarraute zeigt, wie sich dahinter ein Drama abspielt, ein Schauerdrama barocken Ausmaßes (und die Vermutung drängt sich auf, daß unser Interesse an theatralischen Haupt- und Staatsaktionen darum so anhaltend groß ist, weil sie Gleichnisse für die uneingestandenen analogen Minidramen sind, die sich ständig in uns abspielen).

Da gibt es, in diesen freundlich-familiären Alltagsgesprächen, eine unablässige Folge von triumphalen Siegen, Anbiederungen, Kapitulationen, Bündnissen, Unterwerfungen, Gnadengesuchen, Verurteilungen, Verstoßungen, Verwundungen, Verbrüderungen, Treulosigkeiten, Überlistungen; der Untergrund unserer Seele entpuppt sich als eine Walstatt. Unablässig richten wir ineinander die schlimmsten Verwüstungen an, die Betonung eines simplen "aha!" kann einen Freund niederstrecken, und noch stunden- und tagelang hallt es, kaum bewußt, in ihm wider, versucht er, sich von diesem Schlag wieder zu erheben; und in ihrer dickhäutigen Art würden alle sagen, es sei doch nett wie immer gewesen, überhaupt nichts sei geschehen. Die Urteile, die wir uns bilden und von uns geben, etwa über Kunstwerke, werden so betrachtet zu einem anmaßenden Witz; in ihrem Roman Die goldenen Früchte (1963) hat Nathalie Sarraute exemplarisch vorgeführt, wie ein Roman in vielen Gesprächen durchgehechelt wird und dabei changiert wie Grimmelshausens Baldanders ‒ der Roman selber ist so gut wie unsichtbar, fixiert nur in ein paar unverläßlichen und unvollständigen Erinnerungen, und nichts als der Anlaß für lauter Kämpfe um Selbstbehauptung, die am Ende nicht weniger ergeben als den Spruch der Literaturgeschichte.

Der Natur ihres Werkes entspricht es, daß Sarrautes Bücher einander gleichen. Wenn es einen Entwicklungsprozeß gegeben hat, dann den: immer Genaueres über eine immer geringere Stoffmasse zu sagen.

Ihr neuer Roman stellt in diesem Sinne den Gipfel ihres Werkes dar. Er hat ‒ wenn man so will ‒ außerdem den Vorzug, daß er keine Literatur über Literatur ist wie Die goldenen Früchte und der vorletzte Roman Zwischen Leben und Tod und sehr viel leichter zugänglich als dieser ‒

Nathalie Sarraute: Hören Sie das? (Originaltitel Vous les entendez?), aus dem Französischen von Elmar Tophoven; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973; 199 S., 22,‒ DM.

Die "Handlung" ist nahezu ein Nichts. Ein kunstsinniger Familienvater hat abends einen Freund eingeladen, der bewunderte eine präkolumbianische Steinplastik auf dem Kaminsims mit dem Satz "Sie verdiente einen Ehrenplatz in einem Museum", während eine Tochter des Gastgebers die Statue, vielleicht unpassenderweise, mit einer kretischen Skulptur verglich. Nach diesem Fauxpas verabschieden sich die Kinder artig und ziehen sich nach oben in ihr Reich zurück, das für den Vater ein barbarisches Reich der Comics ist. Dort, unter sich, lachen sie. Und dieses Lachen ist der Plot des Romans; vielleicht dauert es nur Sekunden oder Minuten, jedenfalls löst es in dem Vater etwas aus, was er selber nur als eine Art Kribbeln, eine Irritation empfindet, aber hinter jeder Irritation steckt mehr, wie Nathalie Sarraute weiß, und keine kommt von ungefähr. Er jedenfalls fühlt seinen Kunstverstand verlacht, seinen Kunstanspruch, seinen Lebensstil, seine väterliche Autorität, sein Alter, seine Generation, er mobilisiert Widerstand gegen dieses Lachen, verteidigt sich barsch dagegen und erniedrigt sich gleich wieder aufs servilste, um nur ja das Wohlwollen seiner Kinder nicht zu verlieren, das vielleicht sowieso nur eine herablassende Heuchelei ist. Ein Lachen, sicher nicht "unschuldig", weil für Nathalie Sarraute nichts unschuldig ist, aber möglicherweise auf ganz anderes gemünzt: aber es löscht den, der sich von ihm getroffen fühlt, nahezu aus, seine Werte, seinen Halt, und mit ihm einen ganzen Menschentyp. En passant vollzieht sich eine Apokalypse, und es gibt keine Berufung dagegen.

Um ein Beispiel zu geben: Wo ein anderer Romancier allenfalls vermerken würde, ein Vater frage sich, ob er vor seinen Kindern bestehen kann, nimmt ein solcher Moment innerer Debatte unter dem Mikroskop Nathalie Sarrautes eine Gestalt an wie diese: "Ellenbogen eng aneinandergedrängt, stehen sie im Halbkreis da, ihre Gesichter sind regungslos, ihre Augen sind wie Glasaugen starr auf ihn gerichtet. Er nähert sich ihnen … So sagt doch was … ich sprech' doch mit euch … hört ihr mich? Mit seinen kleinen, geballten Fäusten trommelt er schwächlich auf ihren breiten Brustkästen herum, weinerliche Töne schleichen sich in seine Stimme … Ich weiß, daß es lächerlich von mir ist, ich weiß, daß nichts mit euch zu machen ist, daß alles nichts hilft … Und während er zurückweicht, sich von ihnen entfernt, schreit er mit schwacher Fistelstimme: Aber, wißt ihr, ich bin nicht allein. Es gibt Leute, und zwar nicht die schlechtesten, die … Der von Raufbolden auf einer verlassenen Straße umstellte Einzelgänger dreht sich um, ruft (…) Gegen seinen Willen … Es entfuhr ihm … und zwar unter der Wirkung eines jener Reflexe, die dadurch bedingt sind, daß man jahrhundertelang auf seiten der Spießer, der Beschützten, der Bevorrechtigten verbracht hat, die inmitten ihrer Schätze sitzen und ihr Vermögen vergrößern … Und beim ersten Anzeichen von Gefahr … es ist unmöglich, es sich zu verkneifen … Ah, ihr lieben Leute, ihr braven Beamten, zu Hilfe! (…) Es scheint, als hätten wir uns noch nicht tief genug verneigt vor diesem kleinen Wunderwerk. Diesem Meisterwerk. Ein wahres Kunstwerk. Verdiente einen Ehrenplatz in einem Museum. (…) wir haben es gewürdigt, es blieb uns nichts anderes übrig. Und dann haben wir uns zurückgezogen. Wir haben uns oben eingeschlossen. Aber das war schon zuviel (…) Gib es zu, das wolltest du: uns dazu bringen, meineidig zu werden, uns dazu zwingen, uns selber zu erniedrigen (…) Das ist nicht wahr …"

Ein solches, der größten Anstrengung der Introspektion abgewonnenes Werk zu "kritisieren", erschiene mir nichts als arrogant. Ich wünschte aber, Nathalie Sarraute würde es gelingen, ihre Methode noch anzuwenden auf nicht nur die beiläufig-alltäglichen Situationen, sondern etwa auf das Zustandekommen einer bedeutenden und wirksamen Meinung, etwa auf die Geburt einer politischen Überzeugung. Und sie schaffte es, ihre Methode so zu verfeinern, daß sie nicht nur den jeweils situationsbezogenen Prä-Dialog erfaßte; denn in Wirklichkeit ist die Seele gerade in ihren vorbewußten Schichten wohl nie so strikt bei der Sache wie bei Nathalie Sarraute, aber es ist nicht ohne Folgen für diese "Sache", wie sich die Seele simultan anderweitig irritieren läßt.

Doch was auch immer sie noch daraus macht: Nathalie Sarraute hat ein Werk geschaffen, nach dessen Lektüre man nicht mehr derselbe sein kann (wenn die dazugewonnene Wahrnehmungsfähigkeit das Leben auch nicht eben leichter macht) und das in seiner Verbindung von Poesie und Rationalität, durch seine exuberante Bildersprache im Dienste einer durch und durch kontrollierten Forschungsarbeit in der psychologischen Literatur einzigartig dasteht.

 

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