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DIE ZEIT / Reise, Nr.2, 5. Januar 1990, S.46

© 1990 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

  

 

Harzreise, August 1989

Die Geschichte von Elend und Sorge

Von Dieter E. Zimmer

 

 

ES WAR in einem fernen, einem ganz und gar anderen Zeitalter – mehrere Wochen ist es schon her. Und ehe das alles nun gnädiger Vergessenheit anheimfallen kann, sei schnell rekapituliert, wie ein Tagesausflug von Hamburg nach Elend noch im August des Jahres 1989 verlief.

Im „Harzgebirg. Gegend von Schierke und Elend“ erlebte Faust seine Walpurgisnacht. Reale Orte, an denen die Schemen der Literatur spuken, haben mich immer verlockt. So hatte es mir dieses Elend schon lange angetan, um so mehr, als Sorge nicht fern liegt.

Natürlich hätte man auch schon in den letzen Jahren hinfahren können. Man hätte dazu nur fünf, sechs Wochen vorher eine Übernachtung in einem Interhotel sowie ein Visum beantragen und an Ort und Stelle sofort bei der Polizei rapportieren müssen, die einem aber den für die Wiederausreise nötigen Stempel an einem Wochenende wahrscheinlich nicht rechtzeitig verabreicht hätte: Zu viel Umstand also für eine Sonntagskaprice, und darum blieben Elend und Sorge all die Jahre zwar nah, aber unerreichbar.

Im Frühjahr 1989 dann schaffte es die Freie und Hansestadt Hamburg, in den Kleinen Grenzverkehr einbezogen zu werden, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, nun könne man ohne große Vorbereitung in die Grenzkreise der DDR fahren, man müsse sich nur einen Schein von seinem Bezirksamt holen. Beim ersten Versuch waren die Scheine ausgegangen, beim zweiten entpuppten sie sich keineswegs als Genehmigungen zum Grenzübertritt, sondern nur als Formulare, mit denen man eine solche Genehmigung beantragen konnte, in doppelter Ausfertigung einzureichen beim zuständigen Volkspolizei-Kreisamt. Drei oder vier Wochen später kam tatsächlich Post von niemand anderem als dem Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, ein absolut absenderloser Briefumschlag aus Berlin-Ost, enthaltend mehrere „Zählkarten“ und einen „Berechtigungsschein“. Er berechtigte noch immer nicht zur Einreise, immerhin aber dazu, „bei der dem Besuchsort nächstgelegenen Grenzübergangsstelle“ gegen Erlegung der entsprechenden Gebühren ein Visum zu beantragen.

So brach ich denn eines Morgens auf, um von Elend nach Sorge zu gehen. Ich hatte mir alles herausgesucht: Mit dem Auto nach Wernigerode, von dort mit der Schmalspur-Dampfbahn hinauf nach Sorge, zu Fuß zurück nach Elend, dann wieder mit dem Zug zu Tal.

Schon in Halberstadt aber kamen mir Zweifel an diesem schlichten Plan. Dort nämlich kaufte ich eine Wanderkarte „Unterharz“, ein hervorragend ausführliches Ding, ein Kilometer gleich zwei Zentimeter — und stellte fest, daß Elend und Sorge und Schierke und die ganze Ostflanke des Brockens einfach fehlten. Wege und Straßen und Schienen dorthin brachen am Westrand der Karte ab, als sei dort die Welt plötzlich zu Ende. Ich mußte an die Streckenpläne der Berliner Verkehrsbetriebe denken: Auf denen der BVG (West) existierten die Strecken im Ostteil der Stadt immerhin als geisterhaft dünne Linien; auf jenen der Ost-BVG aber verriet kein Strich, daß es auch jenseits der Mauer noch irgendetwas gab.

Ohne weiteres jedoch bekam ich in Wernigerode meine Rückfahrkarte nach Sorge. Doch während der Zug, von einer veritablen qualmenden Tenderlok der Baureihe 99 gezogen (eine der wenigen Dampfkleinbahnen, die in beiden Deutschländern überlebt haben und hoffentlich noch lange überleben werden), ins Gebirg’ hinaufschnaufte, wurde mir klar, daß das ein Irrtum gewesen sein mußte. Photographieren verboten. Aussteigen verboten. Die Ausweise bitte. Grenzgebiet.

Hinaussehen immerhin war nicht verboten. Tatsächlich zuckelte der Zug ein paar Minuten lang an allerlei intrikatem Zaunwerk entlang; sicher noch nicht „die Grenze“ selbst, aber ein ernster Vorbote. Auf den Straßen kein Auto, auf den Wegen kein Wanderer. Elend und Sorge beide vorhanden, irgendwie auch nicht unbewohnt, aber doch menschenleer. Und dann dampfte der Zug aus der Geisterzone hinaus ins Belebte und war in Beneckenstein, das auch auf meiner Wanderkarte wieder verzeichnet war.

Erwartet hatte ich, daß die Reichsbahn nun für die unbezahlte Fahrt von Sorge nach Beneckenstein kassieren würde. Aber der Fall war anscheinend ernster. Der Schaffner zog den im Zug anwesenden Vertreter der Grenztruppen hinzu, einen höflichen Herrn in feriengemäßer Prachtuniform, und während die anderen Reisenden neugierig wegblickten, studierte der meine Papiere, zückte Protokollbuch und Stift und versicherte mir, daß sich das jetzt nicht eigentlich gegen mich richte, aber ich hätte eine Fahrkarte, die ich gar nicht haben dürfe. Und so müsse er nun ermitteln, wer sie mir verkauft oder verschafft habe, damit man gegen diese Person einschreiten könne. Die Anwesenheit eines Westlers selbst in Sorge müßte die DDR doch nicht beunruhigen, meinte ich; wer ganz legal wieder rausdürfe, werde doch nicht über den Stacheldraht zu türmen versuchen. Das Staatsorgan überging die Bemerkung diplomatisch. Ich hoffe, meine mehr als vagen Aussagen über die Herkunft der Fahrkarte haben ihm nichts genützt. Kein Wort erfuhr er von der unaufmerksamen blonden Schalterbeamtin in Wernigerode.

Und während der Zug erst durch Sorge und dann durch Elend wieder pfeifend abwärts dampfte, sah natürlich auch ich nicht voraus, was sich hier in wenigen Wochen verändern würde. Aber wie immer, wenn ich eins dieser Grenz­„Objekte“ der DDR passierte, dachte ich: Wieviel Anstrengung erfordert es doch, diese Trennung aufrechtzuerhalten! Wie ganz und gar altertümlich und obsolet ist das alles!

 

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