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DIE ZEIT/Modernes Leben, Nr.26, 21.Juni 1991, S.70

© 1991 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

 

Warum nicht Müller

Zehn Vorschläge für die Umbenennung von Straßen

 

Von Dieter E. Zimmer

 

 

Das Gute hat nun doch wieder einmal gesiegt, bravo! Weg mit Otto, weg mit Willem. Die Verordneten des Stadtbezirks Berlin-Mitte sind nach hartem Ringen einem Vorschlag des Bündnisses 90 gefolgt und haben beschlossen: Toleranzstraße soll sie künftig heißen, die Otto-Grotewohl-Straße zwischen der Leipziger und den Linden, die einmal Wilhelmstraße hieß und sich als solche einen schlechten Ruf erwarb, amtierte hier doch einmal der Reichspräsident und dann leider auch jener bewußte Reichskanzler, dessen Kanzleigebäude mit seinem bewußten Balkon für die Entgegennahme des bewußten Massenjubels die DDR dicht mit harmlosen Plattenwohnblocks zugepflastert hat, die nun verdächtig brav dastehen und demonstrativ so tun, als wüßten sie rein von gar nichts.

Toleranz also. Die Straße, wo die Intoleranz einmal zur Perfektion getrieben wurde, soll forthin Reklame machen für das Gegenteil. Das Gute hat gesiegt, und aus den Briefköpfen der Treuhandanstalt, die gerade in Görings ehemaligen Reichsluftfahrtministeriumsklotz an selbiger Straße eingezogen ist, wird es wahrhaft persuasiv strahlen: Treue am Wegesrand der Toleranz. Man kann sich so eine Adresse geradezu auf der Zunge zergehen lassen. Wieso nur ... Warum dieses komische Ziehen ... Woher mit einem Mal diese ekligen Zahnschmerzen?

Ich glaube, ich weiß. Ich kann diese Beschulmeisterung nicht vertragen. Ich mag es nicht, wenn mir die Stadtverwaltung auf Schritt und Tritt mit erhobenem Zeigefinger ein schlechtes Gewissen einjagen will. Du gehst gedankenverloren um die Ecke, und schon fragt dich ein Pfahl: „Heute schon tolerant gewesen?“ Straße der Völkerfreundschaft. In Lichtenberg die Straße der Befreiung, in Potsdam die Straße der Gemeinschaft, in Charlottenburg die Bleibtreustraße ... (Achso, diesen Kalauer mußte sich der Historienmaler Georg Bleibtreu schon lange gefallen lassen. Es gibt in selbiger Bleibtreustraße sogar eine Kneipe mit dem sinnigen Namen Reste fidèle. Heißt das denn nicht „Der fidele Rest“?)

Wenn das weiter Schule macht, haben wir bald eine Solidaritätsallee, einen Platz der Zivilcourage, einen Damm der Steuergerechtigkeit. Der moralisierenden Phantasie sind dann überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt: Seid-nett-zueinander-Straße, Platz der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Boulevard der qualitätsvollen Fernsehunterhaltung ... Und man würde solche Namen nie wieder los. Wer einen Platz der Befreiung abschaffen wollte, brockte sich den Ruf ein, die Befreiung für keine zu halten; wer die Friedensallee nicht mag, kann nur ein Kriegshetzer sein.

Ich bin sogar folgender Meinung: Wenn die westdeutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten ein wenig mehr Toleranz gelernt hat als alles in allem die ostdeutsche, dann gerade darum, weil ihr nicht staatlicherseits dauernd starre hehre Tugenden verordnet wurden, unter denen die alten Untugenden undiskutierbar und unbefragt weiterwuchern konnten. Es mag ein wenig eben auch damit zu tun gehabt haben, daß der Staat die Leute weitgehend in Ruhe gelassen hat, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und mit ihnen zurecht zu kommen.

Für die nun wieder fälligen Massentaufen (allein in Berlin stehen über zweihundert Straßenumbenennungen an) möchte ich dem geneigten Publikum hier einen Dekalog von Vorschlägen unterbreiten.

1. Straßen werden nicht umgetauft.

2. Wo Umbenennungen trotzdem unbedingt sein sollen, etwa weil andere zu leichtfertig gegen Regel 1 verstoßen haben, sollen die Straßen möglichst so umbenannt werden, daß sie nicht demnächst wieder umbenannt werden müssen. (Merke: Die heiligsten und ewigsten Werte des Augenblicks sind oft auch die vergänglichsten. Vergänglich ist insbesondere aller Politikerruhm.)

3. Straßennamen dienen grundsätzlich nicht der Volkserziehung. Der Staat soll die Bürger nicht mit Spruchbändern und Losungen behelligen, auch nicht in Gestalt von Straßenschildern. Im übrigen ist es auch zwecklos.

4. Abstrakta sind verboten, und wenn sie noch so hehre Tugenden bezeichnen; also auch keine Freiheitsstraßen, Freiheitsglocken und so fort.

5. Ein Straßenname dient der Kennzeichnung und muß gar keine tiefe Bedeutung haben. Um so besser, wenn Generation auf Generation in einer Müllerstraße wohnen kann, ohne zu wissen und sich dafür interessieren zu müssen, ob diese einem bestimmten Müller oder allen Müllers oder Müllern zu Ehren so heißt. (Sie heißt nach den Müllern, die hier einst mahlten.[*])

6. Ein bißchen Geheimnis schadet nicht. Am Brandpfuhl hört sich ausgemacht hübsch an und beschäftigt die Phantasie aller Kinder der Nachbarschaft bis ans Lebensende.

7. Ein Straßenname soll einigermaßen zuträglich klingen. Kein Magistrat sollte seine Einwohner verurteilen, an einem Schrottplatz oder in einem Müllbergweg, an einer Asbest- oder einer Betonstraße zu wohnen, selbst wenn es die lautere Wahrheit ist.

8. Ein Straßenname soll praxistauglich und strapazierfähig sein – nämlich gut sprechbar, schreibbar und notfalls auch verquatschbar. Es ist eine Zumutung, die Zeitung mal schnell in einer Prof.-Ludschuweit-Allee oder einer Straße des 23. April holen zu müssen. Gegen Fälle wie diesen spricht auch, daß man nicht weiß, wo man sie in einem Straßenverzeichnis zu suchen hat. Eine Suarezstraße mag noch so gut gemeint sein, phonetisch geht sie mit Sicherheit schief. Der Bewohnerwürde einer Markelstraße tut es keinen Abbruch, wenn sie bei Bedarf manchmal zur Murkelstraße wird; hingegen ist es eine Strafe, an einem Aschplatz, einer Mehrzweckpromenade oder einer Entlastungsstraße wohnen oder arbeiten zu müssen.

9. Am unverfänglichsten heißen Straßen einfach so, wie sie sind: Lange Straße, Breite Straße, Krumme Straße; oder nach den Orten, zu denen sie führen, oder nach Orten ganz allgemein, auch den fernsten, zum Zeichen, daß es zum Wesen einer Straße gehört, irgendwo hin zu führen; und daß nicht nur alle Wege nach Rom führen, sondern jeder Weg in Rom überallhin. Aber es darf sich damit kein Erziehungsprogramm verbinden; eine neue Danziger Straße wäre genauso peinlich wie ihr Antidotum, ein Wroclawweg.

10. Wo eine Stadtverwaltung es nicht lassen kann, verdienten Bürgern mit ein paar Straßenschildern ein spottbilliges Denkmal zu setzen, soll sie gefälligst zu der alten Sitte zurückzukehren, es mit dem Nachnamen gut sein zu lasen. Der Heußweg ist völlig ausreichend; der Ernst-Reuter-Platz ist, auch wenn es mehrere ehrenwerte Reuters gibt, vom Sprachpraktischen her einfach ein Wort zu lang, und noch anheimelnder war er, als er einfach Knie hieß. (Wie wäre es übrigens mit Reuterknie?) Wie volkstümlich erscheinen heute jene Monarchen, die sich auf dem Straßenschild einfach mit ihrem Allerweltsvornamen begnügten. In den heutigen Ortsparlamenten hätte keine Wilhelmstraße eine Chance; die Pedanten dort täten es nicht unter Seine-Majestät-Friedrich-Wilhelm-I.-von-Hohenzollern-König-von-Brandenburg-Preußen-Straße, und niemand traute sich dort auch nur, Willy Brandt eine Willystraße zu widmen.

Die steife Gepflogenheit, Vornamen und eventuell auch noch Titel dazuzusetzen, die aus dem Straßenschild eine förmliche Beförderungsurkunde macht, hat in beiden Teilen Deutschlands grassiert. Die DDR hat es fast nie ohne Vornamen getan, selbst dort, wo keinerlei Verwechslung drohte: Karl-Liebknecht-Straße, Ernst-Thälmann-Park, Clara-Zetkin-Straße, ihre Bürger so ständig daran erinnernd, daß ihre Großkopfeten auch nur Paul, Otto oder Erich hießen. (Daß die Huhn-Straße allerdings den Reinhold vorweg brauchte, ist einzusehen; makabrerweise hat sie jetzt ihren alten Namen Schützenstraße zurück – makabrerweise, weil sie nach einem im Dienst zu Tode gekommenen DDR-Grenzer hieß: der erschossene Schütze, dessen Denkmal nun schräg gegenüber dem Kreuz für Peter Fechter steht.) Vielleicht wäre auch die Wilhelm-Pieck-Straße, zu deren Umbenennung sich zur Entrüstung der CDU die Bezirksverordneten noch nicht durchringen konnten, auf einfache Weise zu retten, indem man ihr den Wilhelm abnimmt und vielleicht auch noch das -ec-: Als Pikstraße freute sie alle Kartenspieler und wäre jedenfalls sprechbarer als die Wiedereinsetzung der propagandistischen Verirrung von ehedem, die Elsässer/Lothringer Straße.

Der Verzicht auf den Vornamen ist schon darum nötig, weil hoffentlich doch auch vieler Frauen auf diese Weise gedacht werden wird und weil bei der heutigen Neigung, Doppel- und Dreifachnamen zu führen ... Also was wäre, wenn jene Oda-Gebinne Holze-Stäblein (danke, Eckhard Henscheid, für den Fund!) sich solche Verdienste erwürbe, daß die VäterInnen ihrer Heimatstadt nicht umhin könnten ... Sollte es denen erlaubt sein, irgendjemand zu zwingen, dann in einer Oda-Gebinnne-Holze-Stäblein-Gasse zu wohnen? Bestimmt wird doch die Gnadenseegemeinde Allensbach die Bürgerin würdigen wollen, die sie berühmt gemacht hat. Dann hat sie einen Professor-Elisabeth-Noelle-Neumann-Maier-Leibnitz-Boulevard – und wird die betreffenden Straßenschilder am Ende eigens abstützen müssen.

Vielleicht ist dieses Problem überhaupt am unparteiischsten zu lösen, indem man einfach nur Namen bis zu einer gewissen Länge zuläßt. Dann müßten sich die Namensvergeber eben manchmal mit einer Kurzform oder gar dem Kosenamen begnügen, und statt eines steifen Clara-Schumann-Wieck-Wegs hätten wir einen liebevollen Klärchenweg.

Mein Dekalog enthält noch ein Gratis-Zusatzgebot. Man möge bei soviel plakatierter Toleranz doch auch die Toleranz besitzen, jene Namen zu respektieren, welche die Erbauer der Straßen ihnen einst gaben, auch wenn uns ihre Heldinnen und Helden, all diese Luisen und Wilhelms und Auguste Viktorias ferngerückt und schnuppe sind und sich keinerlei pädagogischer Nutzeffekt mehr aus ihnen schlagen läßt.


 


[*] Klaus Katzur: Berlins Straßennamen. Berlin, Haude & Spener, ²1987

 

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