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Aus Die Vernunft der Gefühle – Ursprung, Natur und Sinn der menschlichen Emotion

München: Serie Piper 227, R. Piper & Co. Verlag, 1981, S. 194-232

 

 

 

Das Unbehagen an der Autorität

Von Dieter E. Zimmer

 

 

DIE ERSTEN Kinderläden waren gegründet, den Professoren in ihren Talaren war der Respekt aufgekündigt, die erste große Protestbewegung war auf ihrem Höhepunkt. Es war 1969, und im Kursbuch formulierte die Psychologin Regine Dermitzel die Diagnose in einem Satz: "In der bürgerlichen Kleinfamilie wird der ödipale Konflikt reaktionär gelöst. Das Kind wird an Herrschaft und ihre Repräsentanten Vater, Erzieher, Staat gewöhnt."

Das Schlüsselwort hieß: Autorität. Die Bewegung hieß: antiautoritär. Ihr oberstes Ziel war es, Herrschaft in jeder ihrer Formen abzuschaffen. Den Anfang wollte sie dort machen, wo "Autorität" angeblich entstehe: in der Familie. Es ist die Familie, so lautete ihr Verdacht, die uns für die Herrschaft abrichtet. Wer ihrem verhängnisvollen Einfluss entginge, würde später weder andere beherrschen noch selber beherrscht werden wollen. Der Protest hatte ein Ziel: die Diskreditierung und allmähliche Beseitigung der Autoritäten. Im herrschaftsfreien Reich der Zukunft gäbe es keine Autorität mehr: Es wäre der freie Zusammenschluss Gleicher, in dem keiner über oder unter dem andern stünde.

Seitdem hat diese Zuversicht an Überzeugungskraft merklich verloren. Hinterlassen hat sie aber ein fortschwelendes Unbehagen an dem, was wir Autorität nennen. Viele Eltern und Lehrer und auch manche Chefs fürchten nichts so sehr wie den Vorwurf, autoritär zu sein. Schüler und Studenten verübeln es sich, wenn sie sich vielleicht doch nach einer Autorität gerichtet haben. Das Gespür für Autorität in allen ihren Verkleidungen ist gewachsen. Es besteht ein allgemeiner Autoritätsverdacht.

Tatsächlich ist das Phänomen Autorität von einer irritierenden Ubiquität. Wo wir auch hinsehen, stoßen wir auf Hierarchien: in den Familien, in den Schulen und Universitäten, ganz besonders krass beim Militär, im Beruf, im Staat, in allen Organisationen. Als bekäme der Mensch gar nicht genug davon, hat er sich in den Religionen noch eine überlebensgroße Hierarchie mit ihren göttlichen Übervätern dazugeschaffen. Allen Träumen von einem autoritätsfreien Leben zum Trotz leben wir, wo auch immer, manchmal nur allzu willig, manchmal widerstrebend, bald selber Autorität ausübend, bald uns fremder Autorität fügend, inmitten eines dichten Netzes von Hierarchien.

 

 

"Autorität": das ist einer jener schillernden großflächigen Begriffe, die nicht nur hilfreich sind. Er fasst Übereinstimmendes in den verschiedensten Lebensbereichen zusammen und schärft damit unseren Blick für Gleichartigkeiten. Aber er behandelt auch Verschiedenstes als gleich, und dann verbindet er die Eltern, die ihren Sohn zum Zigarettenautomaten schicken, mit den Folterknechten des gewalttätigsten Diktators: Beide Male ist schließlich "Autorität" im Spiel, Dominanz und Submission.

Diese Einebnung der Unterschiede durch den Begriff hat zweierlei Folgen. Er gestattet es den Gewaltherrschern, den kleinen wie den großen, sich hinter dem positiven Inhalt des Wortes Autorität zu verschanzen: Sind sie denn nicht nur väterlich streng zu den von ihnen Beherrschten und Unterdrückten? Und er hindert jene, für die er nur negativ klingt, zuträgliche von unzuträglicher, notwendige von überflüssiger Autorität zu unterscheiden: Für sie sind alle ihre Formen gleichermaßen suspekt und von Übel.

Was dieses höchst komplexe Ding Autorität eigentlich ist, kann auch hier nicht ergründet werden. Aber es soll von verschiedenen Wissenschaften her angeleuchtet werden, und zwar von empirischen Wissenschaften her. Vielleicht wird man meinen, das sei noch nicht beweiskräftig; oder man hätte alles, was sie zutage bringen, sowieso schon immer gewusst. Aber "gewusst" oder vermutet wird genauso oft auch etwas ganz anderes oder das Gegenteil. Darum helfen uns die empirischen Wissenschaften durchaus, in dem Wust der Vermutungen die plausibleren von den weniger plausiblen zu trennen.

 

 

'Autorität' ist schnell definiert oder nie. Es ist: ein maßgebender Einfluss; es ist: derjenige, der maßgebenden Einluß auf andere ausübt. Die bündigste Definition von Autorität im politischen Bereich, von ihm 'Herrschaft' genannt, stammt von Max Weber (1921): "... die Chance ..., für einen Befehl Fügsamkeit zu finden."

Von Max Weber stammt auch die Typologie politischer Autorität, an die die Soziologie seither anknüpft. Weber unterschied drei Typen legitimer Herrschaft. Die erste ist die rationale Herrschaft: Sie beruht "auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen". Die zweite ist die traditionale Autorität, beruhend "auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen". Und die dritte schließlich ist die charismatische: Sie beruht "auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen".

Nur bei der charismatischen Herrschaft ist die Autorität an eine Person gebunden. Dass politische Autorität heute fast immer unpersönlich ist, hat der amerikanische Soziologe Robert Bierstedt 1954 in einem klärenden Essay zum Ausgangspunkt genommen: "Informelle Prozeduren und Interaktionsmuster werden zu Normen standardisiert. Rollen werden zum Status standardisiert." Das ist die abstrakte Umschreibung eines höchst konkreten und geläufigen Phänomens: "Es ist nicht so, dass Herr Müller, der Vizepräsident einer Bank, dem Kassierer Herrn Meier eine Weisung erteilte. Es ist der Vizepräsident, der dem Kassierer eine Weisung erteilt, unabhängig von den Einzelmenschen, die diesen Status innehaben." Dieser Umstand schafft uns Schwierigkeiten: "Willig respektieren wir die Kompetenz von anderen; doch die Autorität verlangt unsere Unterwerfung." In der modernen Großgesellschaft haben wir uns einer Autorität zu beugen, die nicht von bestimmten einzelnen Menschen, sondern von Vorschriften und Normen ausgeübt wird. Die Autoritätspersonen sind auswechselbare Funktionsträger, oft völlig anonym. Wenn sie uns im Namen der Norm Fügsamkeit abverlangen (die Bezahlung von Steuern, den Militärdienst, das Halten vor roten Lampen), so meinen sie damit nicht uns als bestimmte einzelne Menschen, sondern uns als Staatsbürger, als Mitglieder irgendwo, als Statusinhaber.

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat 1980, im ersten Band eines vierteiligen Werks zur politischen Psychologie, erklärt, warum die Autorität im politischen und wirtschaftlichen Bereich heute so missvergnügte, rebellische Untertanen und Untergebene erzeugt. Sie erzeugt sie, meint Sennet, weil heute zwei völlig unannehmbare Formen von Autorität das Feld beherrschen: "Die eine ist die Autorität ohne Liebe, die Autorität der persönlichen Autonomie. Sie ist anderen gegenüber gleichgültig und beruht auf einem selbstgenügsamen Expertentum, welches die Rebellion von unten absorbiert und dabei in den Rebellierenden höchst wirksame Schamgefühle erzeugt. Die andere Form war einst typisch für einzelne Kapitalisten, tritt aber heute in sozialistischen und kapitalistischen Bürokratien gleichermaßen auf. Sie ist die Autorität der falschen Liebe, die Autorität des Paternalismus. Sie gibt sich als wohltätig aus, aber die Wohltätigkeit geht nur so weit, wie sie den Interessen des Herrschers dient, und als Preis für die Fürsorge erfordert sie passive Ergebung … Die Verheißungen paternalistischer Stärke sind trügerisch und demütigend: Unterwirf dich, dann sorge ich für dich; wie ich das mache, ist meine Sache. Der Stärke der autonomen Autorität fehlt jegliche Fürsorgleichkeit: Du brauchst mich; ich brauche dich nicht; unterwirf dich."

Sennet macht auch ein paar Vorschläge, Autorität in unseren großen Organisationen erträglicher zu machen. Zum Beispiel sollte die Autorität nicht im Passiv, sondern im Aktiv sprechen – nicht "es wird hiermit angeordnet", sondern "wir, Frau Müller und Herr Meier, wünschen von Ihnen ..." Oder es sollte soviel Freiraum geben, dass jeder einer Anordnung auf seine individuelle Art Folge leisten kann. Oder es sollte ein häufiger Rollentausch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen stattfinden. Oder es sollte die Frage der Fürsorge in Autoritätsverhältnissen, die heute so schamhaft versteckt wird, offen herausgebracht werden: statt Vorteile von Vorgesetzten zu ertricksen, offene Aussprache darüber, dass und warum man ihre Hilfe braucht.

Alle solche Maßnahmen sollen eins bewirken: Abstraktes wieder zu vermenschlichen.

Eine Gesellschaft ganz ohne Autorität hält Sennett weder für möglich noch auch nur für wünschenswert. Der Traum der spanischen Anarchisten von einem völlig der Spontaneität des einzelnen überlassenen Leben sei ein Irrtum gewesen, schreibt er. "Nähme man ihn ernstlich als Plan für eine zu schaffende Gesellschaft, ist die Idee in der Tat furchterregend ... Niemand wäre je einem anderen verpflichtet. An die Stelle sozialer Herrschaft wäre ein allmächtiges Selbst gesetzt, das nur auf seine eigenen Wünsche hört ... Das eiserne Gesetz der Spontaneität machte die meisten menschlichen Beziehungen trivial."

Überhaupt gibt es kaum noch jemanden, der nicht Arthur Koestlers Meinung ist: "Eine Gesellschaft ohne hierarchische Strukturrierung wäre so chaotisch wie Zufallsbewegungen von Gasmolekülen, die in alle Richtungen fliegen, zusammenstoßen, voneinander abprallen ... Wenn wir irgendeine Form der sozialen Organisation mit einem gewissen Ausmaß an Kohärenz und Stabilität betrachten, vom Insektenstaat zum Pentagon, werden wir feststellen, dass sie hierarchisch geordnet ist. Das gleiche trifft zu auf die Struktur der Lebewesen und ihre Funktionsweise – vom Instinktverhalten zu so hochentwickelten Fertigkeiten wie Klavierspielen oder Sprechen. Und es trifft auch auf die Prozesse des Werdens zu – die Phylogenese, die Ontogenese, den Wissenserwerb" (Das Gespenst in der Maschine, 1967).

Eine vollkommen unhierarchische Organisation ist noch nicht einmal denkbar. Organisation ist Hierarchie. Damit ist nicht die Unterdrückung und nicht der Kotau vor der Macht gerechtfertigt. Es sind nur realistische von unrealistischen Zielen unterschieden. Unrealistisch wäre es, Autorität und Hierarchie ganz beseitigen zu wollen. Realistisch wäre es, erträglichere, vielleicht sogar bekömmliche Autoritätsverhältnisse anzuvisieren.

 

 

Die Psychologie hat ziemlich genaue Vorstellungen darüber gewonnen, wie stark wir von Autoritäten abhängig sind. Einige ihrer Einsichten waren so nicht erwartet worden; sie kamen als Schock.

Wie stark beeinflussen andere unsere Urteilsfähigkeit? Anfang der 50er Jahre erdachte der amerikanische Sozialpsychologe Solomon Asch dazu ein elegantes Experiment. Eine Versuchsperson wurde ins Labor gebeten, angeblich um an einem wahrnehmungspsychologischen Versuch teilzunehmen. Wenn sie eintraf, saßen andere schon da. Die Gruppe bekam den Auftrag, nacheinander mehrere verschieden lange Linien mit einer Standardlinie zu vergleichen. Einer nach dem anderen sollte sagen, ob die gerade gezeigte Linie länger oder kürzer war als die Standardlinie. Die Versuchsperson wusste nicht, dass die anderen verkappte Komplizen des Versuchsleiters waren, die ihre eigenen Wahrnehmungen nach einem vorbesprochenen Plan fälschten. Jede für sich hatten die Versuchspersonen die Längen der Linien völlig richtig beurteilt; doch unter dem Eindruck der falschen Urteile der anderen begannen viele von ihnen nun falsche Urteile zu fällen. Nur ein Viertel der Versuchspersonen traute weiter ganz den eigenen Augen. Ein Drittel von ihnen aber richtete sich ganz, der Rest teilweise nach den falschen Urteilen der Mehrheit. Einige von denen, die das Urteil ihrer Augen suspendiert hatten, merkten davon gar nichts; andere wussten wohl, dass sie im Recht waren, hatten aber dem Bedürfnis nachgegeben, sich von den anderen nicht zu unterscheiden. Die meisten waren zu dem Schluss gekommen, dass ihre Wahrnehmungen falsch und die der Mehrheit richtig sein müssten. Der Einfluss der Mehrheit verschwand völlig, wenn die Versuchsperson es nur mit einem anderen zu tun hatte; schon bei zwei anderen aber war die Verzerrung der Urteile da. Fand sie dagegen in der Gruppe auch nur einen einzigen Bundesgenossen, so ging ihr Hang zur Täuschung merklich zurück.

Stimmt es, dass in Krisen eine Gruppe sich enger um den Führer schart? Die niederländischen Psychologen Mauk Mulder und Ad Stemerding entwarfen dafür 1963 ein Experiment. In zahlreichen kleineren Orten wurden Einzelhändler, notorische Eigenbrötler, die sich sogar gegenseitig kaum kannten, zu Versammlungen zusammengerufen. Vertreter der Versuchsleiter malten ihnen die Gefahren aus, die ihnen von einer Supermarktkette drohten: den einen nur schwach, den anderen dagegen dramatisch. Gleichzeitig gab sich der Vortragende als jemand, der ihnen helfen könnte, diese Situation zu meistern. Ein anderer rivalisierte mit ihm darin, trat aber weniger zielstrebig und kompetent auf. Und tatsächlich: die stärker bedrohten Gruppen zeigten auch die stärkere Neigung, als Gruppen beisammen zu bleiben und den starken, prominenten Kandidaten zu ihrem Führer zu machen.

Zu den spektakulärsten und erschütterndsten, auch brillantesten psychologischen Experimenten, die jemals unternommen wurden, gehören die des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram. Sie fanden Anfang der 60er Jahre statt, erfassten mehr als 1000 Versuchspersonen aller Schichten und Altersstufen und wurden später von anderen vielfach wiederholt, immer mit ähnlichem Ergebnis.

Die per Inserat angeworbene Versuchsperson kommt in ein Labor, angeblich um an einem lernpsychologischen Experiment teilzunehmen. Eine andere Versuchsperson ist schon da; zwischen beiden wird per Los entschieden, wer "Schüler" und wer "Lehrer" sein soll. In Wirklichkeit ist die andere Versuchsperson ein Komplize des Versuchsleiters, die Lose sind gezinkt, die echte Versuchsperson wird immer "Lehrer". Der vorgebliche "Schüler" wird an eine Apparatur angeschlossen, die ihm Stromschläge erteilt. Die schwächsten sind kaum merklich; die stärksten sind äußerst qualvoll und offensichtlich lebensgefährlich. Der "Lehrer" erhält von der "Autorität", dem leitenden Wissenschaftler, diesen Auftrag: Er soll Wörter ablesen, die der "Schüler" wiederholen muss; bei einer falschen Antwort soll der "Lehrer" den "Schüler" mit einem elektrischen Schlag, einem Schock "bestrafen", und bei jedem Fehler soll er die Schockhöhe um einen Grad steigern. Der "Schüler" erhält die Schläge nicht wirklich, sondern spielt ihre Wirkungen nur: Bei den leichten zuckt er nur, bei den schwereren fängt er an zu klagen, bettelt darum, aus dem Experiment entlassen zu werden, am obersten Ende der Skala windet er sich brüllend vor Angst und Qual.

Wie weit würden die "Lehrer" gehen? Die meisten derjenigen, die vorher danach gefragt worden waren, sagten: allenfalls bis zu einem kräftigen Stromschlag. Kein einziger hatte es für möglich gehalten, dass jemand bis zum schweren oder gar bedrohlichen Schock weitermachen würde.

Die tatsächlichen Ergebnisse sahen anders aus: War der "Schüler", also das Opfer, in einem anderen Raum außer Sicht-und Hörweite, so gingen 65 Prozent der Versuchspersonen bis ans Ende der Skala. Konnten sie das Opfer schreien hören, machten noch 62 Prozent bis zum Ende weiter. Waren sie mit dem Opfer in einem Raum, so gingen 40 Prozent bis zu den schwersten Schocks. Und selbst wenn sie Seite an Seite mit dem Opfer saßen und es zu seiner "Bestrafung" anfassen mussten, waren es noch 30 Prozent.

War es dagegen den Versuchspersonen überlassen, selber die Schockhöhe zu bestimmen, so wählten sie alle ohne Ausnahme nur die allerniedrigsten Schocks. Keineswegs tobte sich in diesem Versuch also Aggressivität aus. Dass so viele so weit gingen, war nicht Sache irgendeines Bedürfnisses, andere leiden zu machen; es war Sache ihrer Fügsamkeit.

Wurde die "Autorität", also der Professor, der da im Namen der Wissenschaft Gehorsam von ihnen forderte, durch einen ersichtlich inkompetenten "Gehilfen" ersetzt, gingen nur noch 20 Prozent bis zum Ende. Gab es zwei "Autoritäten", die miteinander uneins taten, ob der Versuch fortgesetzt oder abgebrochen werden sollte, so hörten die Versuchspersonen sofort auf. Waren die Versuchspersonen nur Beobachter, wie ein inkompetenter "Gehilfe" die "Opfer" malträtierte, so protestierten die meisten; einige hielten den Gehilfen sogar mit Gewalt davon ab, das "Opfer" weiter zu quälen. Betätigte jedoch den Schalter jemand anderes nach ihren Weisungen, so machten fast alle bis zum Ende weiter.

Das heißt unter anderem: Unsere Bereitschaft, andere leiden zu lassen, wenn eine Autorität es uns aufträgt, ist groß. Sie wächst enorm, wenn wir nur die Anweisungen dazu geben und die Ausführung anderen überlassen bleibt. Sie verschwindet hingegen, wenn unser Handeln ausdrücklich in unserem eigenverantwortlichen Ermessen liegt.

Verglichen mit den Zwangslagen, in die die Wirklichkeit die Menschen immer wieder bringt, ging von der Versuchssituation nur eine sehr milde Nötigung aus. Die "Lehrer"-Rolle war jedem Teilnehmer durchs Los zugefallen; er musste sich denken, dass er ebenso Opfer hätte sein können. Das Scheinexperiment war offensichtlich absurd: Niemand konnte ernstlich glauben, dass diese Strafen dem Lernen förderlich sein konnten, und keiner hatte irgendwelche Anstrengungen gemacht, den Versuchspersonen das Scheinexperiment zu rechtfertigen. Raum für Missverständnisse gab es nicht: Jeder wusste genau, was er tat. Sie alle standen in unmittelbarem, teils physischem Kontakt mit dem Opfer. Jeder war allein mit "Autorität" und Opfer; keine Gruppe drängte ihn. Und vor allem: keinerlei Strafe, keinerlei Nachteil drohte ihnen, wenn sie den Versuch beendeten – sie mussten nur Nein sagen und aufhören. In den echten Situationen also dürfte das Maß der Fügsamkeit noch viel höher sein.

Es waren Durchschnittsmenschen, die da folterten – denn genau das war es, was sie taten. Sie zogen keinerlei Genuss daraus, litten oft sichtbar unter dem Konflikt zwischen Fügsamkeit und Menschenfreundlichkeit (Frauen häufig stärker). Sie gehorchten nur einer Autorität. Wir müssen also mit einem beträchtlichen Potenzial an Gehorsamsbereitschaft geboren sein, schloss Milgram. Hannah Arendt habe recht gehabt, als sie im Zusammenhang mit Eichmann von der "Banalität des Bösen" sprach: Auch seine Versuchspersonen seien brave Bürger gewesen, die aus einem "Gefühl der Verpflichtung" gegenüber der Autorität handelten, und keine sadistischen Monstren.

1970 wiederholte David Mark Mantell das Experiment in München. Hier gehorchten nicht nur 66 Prozent der Versuchspersonen bis zum Schluss, wie in den Vereinigten Staaten, sondern 85 Prozent. Unter ihnen waren auch sieben junge Leute, die damals "Gammler" oder antiautoritäre Protestler hießen; heute würde man sie Spontis oder Alternative nennen. Sechs von ihnen gehorchten bis zum Ende.

1975 warb der kalifornische Psychologe Philip Zimbardo 24 Studenten an, um an einem Experiment angeblich über die Auswirkungen der Gefängnishaft teilzunehmen. Durch Los wurde aus ihnen eine Gruppe von "Wärtern" und eine gleich große Gruppe von "Gefangenen" gebildet. Nach wenigen Tagen "waren die Studenten in Menschen verwandelt, die sie eine Woche früher nicht erkannt hätten". Beide Gruppen behandelten sich wie entmenschte Feinde. Die einen duldeten stumm, einige hatten Zusammenbrüche und mussten vorzeitig entlassen werden; die anderen schikanierten und peinigten sie. Da die Gruppen der Zufall gebildet hatte, konnte nicht die eine die Dulder und die andere die Sadisten enthalten. Beide Gruppen mussten zu Beginn gleich gewesen sein. Das heißt: ob wir andere herumkommandieren und quälen, hängt nicht so sehr von unseren Charaktereigenschaften ab wie von der Situation, in die wir gestellt werden, besonders von dem Druck unserer eigenen Gruppe zur Konformität.

Alles dies bestätigt Arthur Koestler: "Die selbstsüchtigen Impulse des Menschen stellen eine sehr viel geringere historische Gefahr dar als seine integrativen Neigungen ... Wer exzessiver Aggressivität nachgibt, zieht die Sanktionen der Gesellschaft auf sich – er wird zum Outlaw … Der wahre Gläubige hingegen fügt sich ihr um so enger ein."

 

 

Die Psychologie hat auch die Eigenschaften isoliert, die einen Menschen in den Augen der anderen vor allem zur "Autorität" machen. Es sind: Intelligenz (die aber nicht zu hoch sein darf, nämlich nicht mehr als 30 IQ-Punkte über der der Gruppe), Angepasstheit an das Gros, Dominanz, Extroversion, Maskulinität und eine höhere interpersonelle Sensibilität. Es ist: überragende Entschluss- und Tatkraft, die sich jedoch als realitätstauglich erweisen muss.

'Dominanz': darunter versteht die Psychologie die Fähigkeit, sich gegenüber anderen durchzusetzen. Wo sie das so schwer Messbare zu messen versucht, die Persönlichkeit, misst sie seit Jahrzehnten auch die Position auf einer Skala, die von 'Dominanz' (Durchsetzungskraft) bis 'Submission' (Nachgiebigkeit) reicht: Jeder erzielt auf dieser Dominanz-Skala irgendeinen für ihn charakteristischen Wert. 1976 gingen die Psychologen Loehlin und Nichols in Texas der Frage nach, ob es auch erbliche Übereinstimmungen in verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen gibt. Sie untersuchten 850 Zwillingspaare: teils eineiige, teils zweieiige Zwillinge. Eineiige sind genetisch gleich; zweieige stimmen, wie andere Geschwister auch, nur in der Hälfte ihrer Gene überein. Eineiige Zwillinge werden nicht viel anders behandelt als zweieiige; beiden Gruppen, darf man annehmen, begegnet also ihre Umwelt nicht verschieden. Wenn die eineiigen sich bei einem bestimmten Merkmal ähnlicher sein sollten als die zweieiigen, kann es darum nicht an einem anderen Milieu, sondern nur an ihrer größeren genetischen Übereinstimmung liegen. So kamen Loehlin und Nichols zu ihrem Schluß: Bei 'Dominanz' beträgt die Erblichkeit über 50 Prozent. Nur für ein anderes Charaktermerkmal ('soziale Präsenz') liegt der Wert noch höher. Das heißt: Die Unterschiede zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer Dominanz müssen zu einer reichlichen Hälfte auf erbliche Unterschiede zurückgehen. Bei den anderen Persönlichkeitsmerkmalen beträgt die Erblichkeit zwischen 30 und 50 Prozent; bei keinem also ist sie so gering, dass genetische Gründe vernachlässigt werden könnten. (Und dagegen hilft nun kein Geschrei; etwas ausrichten gegen einen solchen Befund könnten nur solide Gründe dafür, dass es sich anders verhält.)

 

Eine Spur zur Erklärung von 'Dominanz' und 'Submission' verfolgt die Medizin. Man weiß seit eh und je, dass Probleme aller Art Herz und Kreislauf beeinflussen – ständig und sehr fein stellen sich beide auf die Aufgaben ein, vor denen das Tier und der Mensch gerade stehen. (Das Herz reagiert so deutlich im Einklang mit der Seele, dass es in den europäischen Kulturen geradezu ein Symbol für sie wurde.) In den fünfziger Jahren konnten die amerikanischen Mediziner Meyer Friedman und Ray H. Rosenman feststellen, dass es einen klaren Zusammenhang gibt zwischen einem bestimmten Verhalten einerseits und Bluthochdruck, Herzkrankheit und Herztod andererseits. Dieses Verhalten, welches das Risiko einer Herz-Kreislauferkrankung stark, etwa um 30 Prozent erhöht, nannten sie 'Typ-AVerhalten'. Der Typ-A-Mensch ist gekennzeichnet durch eine starke Neigung zum Rivalisieren, durch eine übermäßige Sorge um seinen Status, durch Misstrauen und latente Feindseligkeit, durch überdurchschnittlichen beruflichen Einsatz, durch dauernde Ungeduld und Zeitnot, durch eine laute Stimme und ein angespanntes Mienenspiel. Sein Gegenteil, der Typ-B-Mensch, lebt dagegen weniger unter Druck: Er befindet sich nicht im Dauerkampf um Anerkennung und Durchsetzung, er hat Geduld und Zeit – und vor Herzkrankheiten bleibt er relativ sicher.

Die Mediziner Henry und Stephens haben 1977 beschrieben, dass zwischen dominanten und submissiven Tieren und A- und B-Menschen ähnliche physiologische Unterschiede bestehen. Dominante Tiere und A-Menschen haben im Verlauf kompetitiver Auseinandersetzungen mehr Adrenalin und Noradrenalin im Blut als submissive Mäuse und B-Menschen. Haben sich die tierischen Rangordnungen nach einigen Tagen oder Wochen fest etabliert, so gleichen sich die Noradrenalin-Unterschiede wieder aus. Der Adrenalin-Spiegel (und mit ihm der Blutdruck) bleibt bei den dominanten Tieren relativ hoch; bei den submissiven fällt er ab. Das dominante oder A-Verhalten ist also durch eine höhere Reizbarkeit und eine stärkere und dauernde Aktivität des agonistischen Systems gekennzeichnet.

Submissives oder B-Verhalten beruht auf einer stärkeren Tätigkeit des defätistischen Systems. Sie bewirkt, dass die Hirnanhangdrüse das Hormon ACT abgibt, welches wiederum zur Ausschüttung von Nebennierenrindenhormonen führt. Bei dominanten Tieren und A-Typen reagieren die Nebennierenrinden schwächer auf die Gabe von ACTH.

Dominantes und submissives Verhalten sind also tief in der Neurochemie der Tiere und Menschen verankert. Sie sind nicht nur psychische Erscheinungen, sondern betreffen die Auseinandersetzungsbereitschaft des gesamten Körpers. Soweit sich das heute erkennen lässt, handelt es sich, wie bei anderen Regelfunktionen auch, um zwei gegensinnig wirkende Systeme: Je tätiger das eine, umso untätiger das andere. Zusammen bilden beide eine Art Wippe, die es dem Säugetier ermöglicht, sich auf jede Situation nach seinen Kräften zweckmäßig irgendwo zwischen extremer Dominanz und extremer Submission einzustellen.

Wenn jedes Säugetier dieses Doppelsystem A und B besitzt: wie kommt es dann zu "Typen", wie ist es zu erklären, dass die einen immer mehr zu A, die anderen immer mehr zu B neigen? Wie entsteht der Hang zu Dominanz und Submission? Die Ursachen sind dort zu suchen, wo die ganze Psychophysiologie des Lebewesens ihre charakteristische Prägung erfährt. Zu einem Teil ist es die angeborene Konstitution, die genetische Ausstattung. Zum anderen Teil sind es die besonderen Erfahrungen, die jedes Lebewesen im Lauf seines Lebens macht, und hier ganz besonders die frühkindlichen Erfahrungen, in denen sich ein für allemal der Charakter prägt. Wenn Mäuse, die in völliger Isolation aufgezogen wurden, in Käfige gesetzt werden, in denen sie sich auf dem Weg zu Futter, Wasser und Weibchen immer wieder begegnen müssen, so kommt es zu unausgesetzten Kämpfen zwischen ihnen, bis hin zum Kannibalismus. Eine stabile Rangordnung, die diese Kämpfe verhindern würde, stellt sich nicht ein; die Tiere reagieren auf ihre Artgenossen fortgesetzt feindlich. Aus den Arbeiten der ethologisch orientierten Psychiater wissen wir, dass auch bei Menschen eine Störung der frühkindlichen Bindungsbeziehungen zu einer teils lebenslangen Feindseligkeit führt. Wie sehr jemand zu A- oder B-Verhalten neigt, hängt also, außer von seiner konstitutionellen Mitgift, vor allem davon ab, ob seine ersten formenden Lebenserfahrungen günstig, das heißt so ausfallen, wie es das artspezifische Programm vorsieht. Tun sie das, so ist wahrscheinlich die Wippe zwischen A und B ausgeglichen, und ganz wie die besonderen Umstände der Situation und die eigene augenblickliche Verfassung es erfordern, ist beides Verhalten möglich. Bei einer Frustration der kindlichen Bedürfnisse nach schützenden Sozialkontakten dagegen stellt sich, je nach der Schwere der Frustration, ihrem Zeitpunkt und der konstitutionell vorgezeichneten Fähigkeit, mit solchen Entbehrungen fertigzuwerden, entweder eine chronische Aggressivität oder eine chronische Depression ein oder ein Pendeln zwischen beiden. Hier weiter nach den entscheidenden Determinanten zu suchen, ist sicher vielversprechender als ein weiteres Stöbern in irgendwelchen angeblichen Ödipuskomplexen.

 

 

Eine geheimnisvolle, noch gar nicht aufgeklärte Beziehung besteht zwischen Dominanzverhalten und Sexualität. "Stattlicher junger Mann sucht Domina ...": Nicht wenige Menschen erleben sexuelle Lust, wenn der Partner sie demütigt und ihnen physischen Schmerz zufügt, oder wenn sie ihrerseits dem Partner Schmerz zufügen und ihn demütigen, in Situationen einer eindeutig physischen Dominanz oder Submission also. Auch das Sexualverhalten von "Normalen" ist mehr oder weniger sadomasochistisch eingefärbt. Die Umfrage einer italienischen Feministinnenzeitschrift unter ihren Leserinnen im Frühjahr 1981 ergab zur Verwunderung der Redaktion, dass selbst diese emanzipierten Frauen es schätzten, wenn ihre Partner eine Spur von Gewalttätigkeit in der körperlichen Liebe an den Tag legten: Sie "fühlten" dann "stärker". Der homosexuelle Filmemacher Frank Ripploh schilderte seinen Fall so: "Lust hat ja auch zu tun mit Schmerz und mit der Überhöhung deiner Gefühle ... Wenn du eine gewisse Unabhängigkeit erreicht hast, beginnst du nach Prügeln zu hungern …  ich brauche manchmal ganz deftig was auf den Arsch. Wenn ich das eine Zeitlang nicht habe, muss ich mir das eben holen."

Zur Erklärung von Sadismus und Masochismus gibt es bisher nur psychoanalytische Theoreme. Freud erkannte, dass beide keine Gegensätze sind, sondern häufig gemeinsam auftreten und ineinander umschlagen können (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905). Ehe er sie später aus dem Wirken des von ihm angenommenen "Todestriebs" erklärte, vertrat er die Meinung, sie entstünden aus Triebversagung: Das Kind habe sexuelle Ansprüche (nacheinander orale, anale und genitale) an seine Eltern; werde diesen Ansprüchen die Erfüllung verwehrt, wie es in der "ödipalen" Phase regelmäßig geschieht, so reagiere das Kind mit Aggression, mit Lust am Zufügen von Schmerz. Werden auch diese sadistischen Impulse durch Versagung und Strafe gebremst, so bleibt ihnen nur der Ausweg, sich gegen die eigene Person zu wenden – sie werden zur Selbstzerstörung, zum Masochismus. Das "Über-Ich" (das Gewissen), die innerseelische Repräsentation der äußeren Autoritäten, allen anderen voran der des Vaters, wende sich gegen die eigenen Triebe, verfolge und bestrafe die eigenen verbotenen sexuellen Gelüste, willige mit Genuss in ihre Bestrafung ein.

Gegen diese Theorie spricht, dass die Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit kindlicher sexueller Ansprüche an die Eltern kein Faktum ist, sondern eine fragwürdige psychoanalytische Hypothese; dass das Strafbedürfnis des Masochisten meist durchaus auf die spezielle Gewalttätigkeit der sexuellen Situation beschränkt ist, während andere körperliche und seelische Folterungen ihm so verhasst sind wie jedem anderen Menschen; und dass der Masochist seine Sexualität ja keineswegs unterdrückt und bestraft, sondern im Gegenteil überdurchschnittlich ungehemmt auslebt.

Was die Psychoanalyse als ödipale, also als sexuelle Familienkonflikte interpretiert, sieht die verhaltensbiologisch orientierte Psychologie eher als beginnende Ablösungsprozesse an, in denen Kinder ihren Eltern, vor allem Söhne ihren Vätern gegenüber ihre Eigenständigkeit zu behaupten und durchzusetzen beginnen. Sexualität, Aggressivität und Dominanzverhalten werden von anatomisch eng benachbarten Gehirnzentren gesteuert und sind wahrscheinlich in gewisser Weise funktional verkoppelt. Ist das so, so müsste man die sadomasochistischen Phänomene als die atavistische Übertreibung einer allgemeinmenschlichen Anlage, eine ungewöhnlich enge und direkte Verkoppelung von Sexualität, Dominanzaggression und Submission verstehen. Aber unter welchen Umständen sie zustande kommt, auf welchen konstitutionellen Vorgaben sie beruht und welche lebensgeschichtlichen Einflüsse sie formen, das hält man besser noch für eine der völlig offenen Fragen.

 

 

Seit der norwegische Zoologe Thorleif Schjelderup-Ebbe 1922 die strenge Hackordnung im Hühnerhof entdeckte, ist der Biologie das Phänomen der Dominanz geläufig. Im Tierreich ist es fast allgemein. Bei einer großen Zahl von Tierarten, Insekten, Vögeln wie Säugetieren, wurden Rangordnungen entdeckt. Es wurde auch klar, warum fast alle sozial lebenden Tiere Rangordnungen bilden: Wird eine Gruppe angegriffen, so vergrößert es ihre Überlebenschancen, wenn sie einem Leittier folgt; außerdem erspart die Etablierung einer Rangordnung es den Angehörigen der Gruppe, jedesmal aufs neue um den Vortritt (beim Fressen oder Kopulieren) kämpfen zu müssen. Nach außen schafft sie größere Sicherheit, im Inneren Stabilität. Die Dominanzordnungen sind keine Schikane, die die Natur über ihre Geschöpfe verhängt hat; sie sind eine zweckmäßige Ordnung des Zusammenlebens. Sie entstehen überall dort, wo Ungleiche zusammenleben.

Die Frage ist, ob daraus irgendwelche Schlüsse auf die Verhältnisse des Menschen zu ziehen sind. In der Tierordnung der Primaten, der er entstammt, sind Dominanzordnungen nahezu überall anzutreffen. Sie sind eins der stabilsten und konservativsten Merkmale ihres sozialen Zusammenlebens. Trotzdem mag es reiner Zufall sein, dass auch der Mensch allenthalben Hierarchien hervorgebracht hat. Wahrscheinlich ist es nicht eben, aber ausgeschlossen ist es auch nicht. Tatsächlich verfügt der Mensch über ein ganzes Register von Gefühlen, die nur innerhalb von Rangordnungen Sinn ergeben: Stolz, Demut, Ehrgeiz, sozialer Neid, Scham, Bewunderung, Verachtung. Mit großer Wahrscheinlichkeit entstehen auch diese Gefühle in jenen tiefen Teilen des Gehirns, die entwicklungsgeschichtlich eine Errungenschaft der Reptilien und frühen Säuger sind. Unser Fühlen ist stammesgeschichtlich darauf eingerichtet, dass sich der einzelne in einer Dominanzordnung wiederfindet.

Seit den Arbeiten des britischen Biologen Michael Chance (1967) betrachtet die Biologie die tierischen Dominanzordnungen nicht mehr, oder doch nicht mehr ausschließlich, als eine Sache der rohen körperlichen Gewalt. Sie spricht von "Aufmerksamkeitsstrukturen": Die Aufmerksamkeit der Gruppe richtet sich auf die dominanten Tiere; je mehr Aufmerksamkeit ein Tier auf sich versammelt, desto dominanter ist es. Dominanz ist Prominenz. "Die Aufmerksamkeitsstruktur war der große Vorläufer in der psychischen Evolution des Menschen. Es lässt sich mit Grund annehmen (wenn auch nicht unwiderleglich beweisen), dass die Aufmerksamkeitsstruktur unserer Vorfahren auf uns gekommen ist, fossilisiert in unseren verinnerlichten Bildern von elterlichen und anderen dominanten Figuren. Wie unser Blut die Zusammensetzung des Urmeers bewahrt, so erschaffen unsere psychischen Strukturen die Sozialordnung der ersten Hominiden aufs neue", schrieb Jerome H. Barkow in Chances Buch über Aufmerksamkeitsstrukturen. Es muss nicht so sein; aber es würde manches irrational Anmutende im Verhalten des Menschen erklären.

 

 

Einigermaßen ratlos beobachten wir, wie aus unserer Mitte aufgeklärte Menschen entschwinden, um in der engen, unverbrüchlichen Gemeinschaft einer Sekte oder Bewegung aufzugehen. Eben noch im Konflikt mit den Autoritäten, sitzen sie plötzlich zu Füßen eines Gurus und erschauern wohlig, wenn sie seine "Energie" spüren. Eben noch angeödet von ihrer entfremdeten Arbeit, tun sie plötzlich das gleiche oder ähnliches unter viel primitiveren Umständen und finden es plötzlich beglückend sinnvoll. Könnte es nicht sein, dass das Gefühl der Sinnlosigkeit, welches in der modernen Welt epidemisch um sich gegriffen hat, gar nicht daher rührt, dass niemand und nichts den Menschen mehr überzeugend und verbindlich vorbuchstabiert, warum und wozu sie leben, sondern dass es sich überall dort einstellt, wo das Milieu der evolutionären Angepasstheit zu weit verlassen ist, wo er zum Beispiel nicht mehr in einem festen, engen, persönlichen Sozialverband lebt, auf den sein Fühlen eingestellt ist? Dass das Problem nicht darin besteht, dass er die letzten Fesseln immer noch nicht abwerfen konnte, sondern vielmehr in der wachsenden "Unverbindlichkeit" seines Lebens?

Richard Savin-Williams beobachtete 1977 ein amerikanisches Ferienlager mit dem Blick eines Soziobiologen. Er stellte fest, dass in jeder der Hütten die fünf oder sechs Bewohner, Jungen zwischen zwölf und vierzehn, innerhalb einer Stunde nach der Ankunft untereinander eine Rangordnung ausmachten. Nicht die größten und stärksten oder rohesten nahmen die Führer-, die Alpha-Position ein, sondern die bestaussehenden, die körperlich reifsten und sportlichsten. Beta wurde ein Junge, der gut mit Alpha auskam. Gamma wurde einer, der groß und stark, aber unbeliebt war – der Gruppentyrann. Jede Gruppe hatte einen "Witzbold" in einer mittleren Position. Omega wurde der unreifste, kleinste, unsportlichste; aber kein Omega war unglücklich – alle wollten sie dazugehören und wiederkommen. Wenn alle Alphas zusammen eine Hütte belegten, so etablierten sie untereinander wieder eine ähnliche Rangordnung.

Eine parallele Studie wurde in einem Ferienlager für Mädchen gemacht. Die Rangordnungen hier entstanden weniger schnell, waren weniger umkämpft und weniger ausgeprägt. Die Alpha-Position wurde nicht den hübschesten und sportlichsten zuerkannt, sondern den reifsten und mütterlichsten. Ihre Haupteigenschaften: zuversichtlich, loyal, gütig und geschickt.

Das nun passt gut zu dem, was völlig unabhängig davon in psychotherapeutischen Gruppen beobachtet wurde. Dem Schweizer Psychiater Adolf Friedemann und anderen war aufgefallen, dass informelle psychotherapeutische Gruppen, die frei sind, ihre inneren Beziehungen nach Belieben einzurichten, Rangordnungen etablieren. An der Spitze steht die "Kernfigur" Alpha: Sie argumentiert weniger, sie handelt und entscheidet. In der Beta-Position findet sich der "neutrale Sachkenner", der "Könner", der Alpha oft nicht unter-, sondern beigeordnet ist. In der Gamma-Position finden sich einerseits die aktiven "Anhänger", andererseits die passiven "Mitläufer". Die "Prügelknaben" und "Mauerblümchen" nehmen die Omega-Position ein.

So sieht es aus: Überlässt man eine Gruppe von Menschen sich selber, so etabliert sich "ganz von allein" eine charakteristische Dominanzordnung.

Liegt das nun an einem angeborenen Instinkt, oder wird es gelernt?

Der französische Verhaltensbiologe Henri Laborit macht das Dominanzprinzip für alle Probleme der Menschheit verantwortlich, für ihre Krisen und Kriege. "Die einzige Motivation der Menschen hat bis heute darin bestanden, dass Individuen, Gruppen, Nationen und Blöcke Dominanz suchten und etablierten" (1980). Von einem angeborenen Dominanzinstinkt könne dennoch keine Rede sein. Denn wo immer zwei Menschen aufeinandertreffen und es auf die gleiche Sache abgesehen haben, oder wo immer der eine etwas von dem anderen will, was nicht in dessen Interesse liegt: Sie müssen zwangsläufig miteinander rivalisieren, es findet eine Machtprobe statt, und einer behält die Oberhand, erlangt die Dominanz. Es brauchte gar keine genetische Befestigung; die unentrinnbare Logik der Situation sei es, die dem Menschen sein Dominanzverhalten aufzwingt.

Beobachtungen wie jene in dem amerikanischen Ferienlager deuten allerdings darauf hin, dass vielleicht doch ein weitergehendes genetisches Bias im Spiel ist. Warum sollten sich sonst die Dominanzordnungen der Mädchen von denen der Jungen unterscheiden? Ihren Vorteil in Konkurrenzsituationen verteidigen, das müssen beide Geschlechter gleichermaßen; keines kann ihn auf Dauer weniger durchsetzen als das andere, kann in diesem Sinne weniger dominant sein – sonst wäre es nicht lebensfähig. Möglicherweise stehen hinter den "spontanen" menschlichen Hierarchien also doch die ererbten Dominanzordnungen der Primaten.

Mit den heutigen Methoden ist die Frage, ob das Potenzial zur Hierarchienbildung ererbt ist, in welchem Maß es gegebenenfalls ererbt ist und was da eigentlich ererbt wird, nicht zu beantworten. Wenn aber das Ergebnis, die Hierarchie, sich in jedem Fall einstellen muss, ob nun ererbt oder erworben oder beides, ist die Frage im Grunde auch nicht dringlich.

Die These, es sei das Dominanzstreben die einzige Motivation des Menschen, wie sie Henri Laborit in Alain Resnais' Film Mein Onkel aus Amerika (1980) so beredt und anschaulich vertritt, ist im übrigen so irreführend wie alle monokausalen Erklärungen menschlichen Verhaltens. Ob Marx den Bürger aus seiner Besitzgier, Freud den Menschen aus dem Schicksal seiner Sexualtriebe, Robert Ardrey alle seine Konflikte aus dem "territorialen Imperativ" erklärte, dem Zwang, Reviere zu erobern und zu verteidigen – alle diese Modelle greifen hoffnungslos kurz angesichts des phantastischen Reichtums – ererbter wie erworbener – menschlicher Bedürfnisse und Beweggründe.

 

 

Das Phänomen Autorität macht uns zu schaffen. Im Grunde aber war es gar nicht die anthropologische Frage, ob und wie viel Autorität sein muss, was die Leute bewegt hat. Bewegt hat sie etwas Spezielleres. Es war die Frage: Wie entsteht der Faschist? Woher rührt dessen "eigentümliche Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit" (Joachim C. Fest)? Was macht den Menschen, der nach oben katzbuckelt, liebedienert und stumm gehorcht, und der nach unten tritt? Wie könnte man ihn verhindern? Eine Antwort darauf war eben die antiautoritäre Erziehung: die Erziehung, aus der keine autoritären Persönlichkeiten, sondern mündige, demokratische Menschen hervorgehen sollten.

Über Zusammenhänge zwischen Familienhintergrund und autoritärer Charakterstruktur begann der Soziologen- und Analytikerkreis um Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm schon in den dreißiger Jahren nachzudenken. Nach 1933 musste er in die Emigration gehen; in Kalifornien setzte er seine Arbeit fort. Noch 1936 gab er in Paris ein großes und reiches Sammelwerk über Autorität und Familie heraus.

Die maßgebende Theorie über Autorität und Familienhintergrund entwarf darin Erich Fromm. Er knüpfte an Freud an, veränderte und erweiterte dessen Theorie jedoch. Freud hatte es etwa so gesehen: Der kleine, etwa drei- bis sechsjährige Junge verliebt sich in seine Mutter und wird darum auf den Vater eifersüchtig. Dieser wird zu seinem gehassten Rivalen. Alle derartigen "ödipalen" Wünsche muss er aufgeben; es fällt ihm leichter, wenn er sich mit dem Vater "identifiziert", dessen Gebote und Verbote zu seinen eigenen macht. Später übernimmt er die Vorschriften von Erziehern, Lehrern, Vorbildern. Sie alle bilden sein Gewissen, sein "Über-Ich". Das Über-Ich ist die verinnerlichte Autorität. Das der Mensch später Autoritäten anerkennt, sich ihnen fügt, an sie glaubt, kommt daher, dass er die Normen seines Über-Ichs wiederum personifiziert. Die Familie also ist es, die seine Bereitschaft bestimmt, Autoritäten zu suchen und anzuerkennen.

Erich Fromm nun wendete diesen Ansatz ins Soziale. Freud habe nur gesehen, sagte er, dass die Autoritäten der Gesellschaft die Verlängerungen der Vaterfiguren seien; er habe dabei übersehen, dass die Autorität der Väter nie absolut sei, sondern sich ihrerseits "an die in der Gesellschaft herrschende Autorität anschließe". Aufgabe des Gewissens, des Über-Ichs, also der verinnerlichten Autorität sei es, die Triebe zu unterdrücken. Je weniger Bedürfnisse in einer Gesellschaft oder Klasse befriedigt werden, umso größer sei die Notwendigkeit, die Triebe zu unterdrücken. Je schlechter es einer Gesellschaft oder Klasse gehe, umso starrer und härter ihr Gewissen. "Je mehr ... die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und zur Lust."

Es war eine etwas seltsame auf keine konkreten Beobachtungen gestützte Theorie: Je schlechter die Zeiten, desto autoritärer die Menschen; je mehr die Menschen zu leiden haben, desto lustvoller werden sie leiden. Was sie eigentlich erklären wollte, nämlich warum in einer gegebenen Lage die einen autoritärer werden als die anderen, hatte sie ganz außer acht gelassen und vergessen.

An dieser Schwäche der Fromm'schen Theorie könnte es gelegen haben, dass Adorno und seine Mitarbeiter später die Frage nach den Zusammenhängen zwischen autoritärer Persönlichkeit und Familienhintergrund ganz neu aufrollten.

Den Adorno-Kreis interessierte jahrelang vor allem die Frage: Was ist die potenziell faschistische, die "autoritäre" Persönlichkeit? Und wie entsteht sie? Dahinter stand die Frage: Wie lässt sie sich am besten verhindern?

Er fragte also nicht nach den politischen, den ideologischen und ökonomischen Kräften hinter dem Faschismus, sondern nach den psychischen. Dazu fühlte er sich nicht nur berechtigt, sondern geradezu gezwungen. Erstens nämlich sind alle Menschen irgendwann faschistischer Ideologie ausgesetzt; nur manche aber zeigen sich dafür empfänglich. Zweitens "wird immer deutlicher, dass die Menschen sich sehr oft nicht im Sinne ihrer materiellen Interessen verhalten", ihnen sogar zuwiderhandeln – vor materiellen Eigennutz gehe ihnen häufig das Bedürfnis, zu einer größeren Gruppe zu gehören und gegensätzliche Gruppen zu unterdrücken. Das marxistische Axiom, das (materielle) Sein bestimme das Bewusstsein, wurde zumindest von Adorno also verworfen.

Die grundlegende und höchst produktive Einsicht des Adorno-Kreises war die: Faschistische Einstellungen treten meist nicht einzeln auf. Sie bilden ein typisches Denkmuster, eine Einheit. Was sie zusammenhält, ist der Charakter – nämlich "die mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten ... bestimmen". Es gibt ein autoritäres, nämlich potenziell faschistisches Reaktionspotenzial; wer es besitzt, ist für faschistische Propaganda eher empfänglich als der nichtautoritäre Charakter.

Die praktische Hauptarbeit des kalifornischen Kreises bestand jahrelang darin, eine Skala zu konstruieren und zu erproben, die den autoritären Charakter misst. Sie wurde als F-Skala berühmt (das F steht für 'Faschismus'). Ihr Wesen besteht darin, dass sie nicht direkt fragt: Sind Sie Faschist? Gehören Sie einer faschistischen Organisation an? Hassen Sie die Juden? Vielmehr fragt sie nach den Einstellungen zu einer großen Zahl verschiedener, teilweise politisch recht unverfänglich wirkender Fragen. Und eben dabei zeigte es sich, dass der Faschist ganz bestimmte Cluster von Einstellungen bevorzugt – und dass man umgekehrt an diesen Clustern den potenziellen Faschisten sicher erkennen kann.

Worin also besteht der autoritäre Charakter? Die Liste seiner Eigenschaften ist lang. Dies sind die wichtigsten: Er ist ein besonders konventioneller Mensch, starr gebunden an hergebrachte Werte. Er hat einen Hang zum Stereotypen und denkt in rigiden Kategorien von Gut und Böse, Richtig oder Falsch – alles Ambivalente ist ihm verdächtig, wie auch alles Subjektive, Phantasievolle, Sensible. Er unterwirft sich willig und unkritisch den Autoritäten der eigenen Gruppe. Er sucht sich Andersartige, die er verurteilen, verteufeln und bestrafen kann. Er schätzt Machtdenken und Kraftmeierei. Er glaubt an wüste und gefährliche geheimnisvolle Vorgänge in der Welt. Er beschäftigt sich im Übermaß mit Sexuellem.

Die F-Werte korrelieren deutlich mit IQ, Bildungsgrad und sozioökonomischem Status: Autoritäre Charaktere sind in den Unterschichten, bei den weniger Gebildeten und bei den unterdurchschnittlich Intelligenten stärker vertreten.

Die Autoritarismus-Forschung des Adorno-Kreises hat die Sozialpsychologie jahrelang in Atem gehalten. Sie wurde heftig kritisiert, konnte sich in den Grundzügen aber recht gut behaupten. Dass es das in der Tat gibt: die autoritäre Persönlichkeit – heute ist es Allgemeingut. Um so sonderbarer ist es, dass das Gemeinschaftswerk über Autorität und Familie von 1936 nie wieder aufgelegt wurde und dass aus dem epochalen Werk der F-Forschung, The Authoritarian Personality von 1950, bisher nur Adornos eigene Beiträge in deutscher Sprache erschienen sind, und auch die erst 1973.

Jene kalifornischen Studien wirken bis heute fort. Auch die SINUS-Studie über den Rechtsextremismus in der Bundesrepublik von 1980 ist ohne sie nicht denkbar. Sie hatte zunächst einzelne Ansichten erklärter Rechtsextremisten gesammelt, hatte sie gebündelt und dann einer relativ großen Stichprobe der gesamten Bevölkerung vorgelegt, etwa 7000 Leuten. Es waren insgesamt 23 Sätze wie: "Wir sollten wieder einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert" oder "Gäbe es bei uns wieder Arbeitslager, kämen Zucht und Ordnung von alleine". Wer mindestens sieben solcher vehement rechtsextremen Statements bejahte, wurde als Rechtsextremist eingestuft. Aber wer überhaupt Gefallen an irgendwelchen dieser Ansichten zeigte, stimmte dann auch meist gleich einer großen Zahl zu, 16 etwa. 13 Prozent der Bundesdeutschen, so war das Ergebnis, haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Der heutige Rechtsextreme ist Adornos autoritärer Persönlichkeit sehr nahe: Vor allem anderen kennzeichnen ihn Hass und Abneigung gegen alles Andersartige; außerdem fühlt er sich bedroht, schätzt er Zucht und Disziplin; demokratischer Pluralismus ist ihm anrüchig.

Welches nun sind die Bedingungen, die den autoritären Charakter hervorbringen oder zumindest begünstigen? Mit dieser Frage betritt man sehr viel unsichereres Terrain. Unter Adornos Mitarbeitern ist ihr vor allem Else Frenkel-Brunswik nachgegangen.

Ehe man sich die wichtigsten Ergebnisse vergegenwärtigt, muss man bedenken: Intuitiv wissen wir überhaupt nicht, was es ist, das den autoritären Charakter formt. Es könnte, um die beiden Extreme zu nehmen, die besonders autoritäre Familie besonders autoritäre Kinder produzieren; es könnte aber auch, ganz im Gegenteil, die besonders autoritäre Familie in den Kindern eine solche Abneigung gegen autoritäres Gehabe hervorbringen, dass sie schließlich zu besonders unautoritären Menschen werden. Jeder hat für beide Fälle Beispiele beobachtet. Beides ist möglich. Beide Vermutungen sind im Schwange.

Frenkel-Brunswik kam durch eingehende Beschäftigung mit den Lebensgeschichten ihrer Testpersonen zu folgenden Ergebnissen: Die besonders "Autoritären" hatten eine relativ harte und bedrohliche, vom Kind als willkürlich erlebte Familiendisziplin erfahren. Ihre Eltern hatten auf der exakten Erfüllung vorgegebener Rollen und Pflichten bestanden; ein "Austausch frei strömender Zuneigung" hatte weniger stattgefunden. Sie hatten ihren Kindern starre Regeln und Sitten vermittelt und sich weniger individuell auf sie eingelassen. Entstanden war in dieser Erziehung eine Neigung zu konventionellen, äußerlichen und flachen Gefühlsbeziehungen. Die Haltung zu den Eltern war teilweise feindselig gewesen; diese Feindseligkeit wurde oft hinter einer überschwänglichen Idealisierung der Eltern versteckt. Diese Haltung setzte sich im späteren Leben fort: als "Überkonformität und eine untergründige Aggressivität gegen etablierte Autoritäten, Sitten und Institutionen". Der deutlichste Zug ist wohl diese schwelende, untergründige Feindseligkeit, die sich gegen vermeintliche Feinde richtet: Juden, Schwarze, Zigeuner, Homosexuelle, Langhaarige, Bayern, Preußen ...

Wir wissen aus zwei anderen, unabhängigen Richtungen der Psychologie, was diese Feindseligkeit, diese aggressive Haltung mit bewirkt, und es stimmt sowohl miteinander als auch mit Frenkel-Brunswiks Beobachtungen überein.

Aus der analytisch-ethologisch orientierten Theorie des Bindungsverhaltens, wie sie von dem britischen Psychiater John Bowlby vertreten wird, wissen wir: Wenn das Kind, vor allem das sechs Monate bis drei Jahre alte Kind keine engen, stabilen, verlässlichen, ungestörten Gefühlsbeziehungen zu einer festen Bezugsperson aufbauen kann, entsteht in ihm eine, teils das ganze restliche Leben überfärbende, tiefe Feindseligkeit.

Die Lernpsychologie sieht es nicht anders. Albert Bandura hält Aggressivität für etwas, das der Mensch lernt. Wer oder was bringt ihm Aggressivität bei? Vor allem, fand er in einer Studie jugendlicher Gewalttäter (1959), die "elterliche Erziehungstechnik" – nämlich "ein Mangel an gefühlsmäßiger Fürsorge und eine strafende Haltung", eine "Störung der Abhängigkeitsbeziehung des Kindes zu seinen Eltern".

Was die Zürcher Psychoanalytikerin Alice Miller in ihrem Buch Am Anfang war Erziehung (1980) so beredt und anklagend beschreibt, die Familie als eine "Brutstätte des Hasses", den "Mord am Kind", den jede Erziehung begeht, die alles "Lebendige, Kreative, Emotionale" in ihm unterdrückt und dazu all die Mittel dessen anwendet, was Katharina Rutschky die "schwarze Pädagogik" nannte, reichend vom listenreichen Fallenstellen bis zur Misshandlung und zur regelrechten Folter: Viele Psychologen haben es schon seit einiger Zeit gewusst. Gewalt zeugt Gewalt. Gewalttätige Eltern bringen gewalttätige Kinder hervor. Eine Untersuchung von Silver/Dublin/Lourie aus dem Jahr 1969 hat die Linie der Gewalt über Generationen zurückverfolgt. Miller gibt dem Befund eine psychoanalytische Erklärung: Die schwarze Erziehung versuche, die lebendigen Gefühle des Kindes zu töten, besonders die negativen Gefühle (Angst, Wut); sie werden "abgespalten". Haben dann solche Menschen ihrerseits Kinder, so suchten sie "das Aufleben des einst in sich Umgebrachten und Verachteten im eigenen Kind zu verhindern"; was sie in sich "abgespalten" haben, "projizieren" sie auf ein verfügbares äußeres "Objekt". Keines ist so wehrlos und verfügbar wie das eigene Kind: "Der innere Feind kann endlich draußen verfolgt werden."

Schon 1949 hatte Max Horkheimer versucht, die Nahbefunde der empirischen Sozialforschung in einen weiteren Zusammenhang zu stellen. "Die Familie in der Krise", schrieb er, "bringt jene Haltungen hervor, welche die Menschen zu blinder Unterwerfung prädisponieren." Die Krise sei heute eine doppelte: Die moderne Mutter betrachte die Mutterschaft als Beruf, als professionelle Anwendung von Erziehungstechniken, und in der Folge schwinde "ihre natürliche, grenzenlose Fürsorge und Wärme". Der Vater andererseits trete höchstens noch in der Familie als Autorität auf – draußen im Leben sei er es meist nicht mehr. Das Kind müsse entdecken, dass er keineswegs die "mächtige Figur, der unparteiische Richter, der großmütige Beschützer" ist, den es zuerst in ihm sah. Die "gesellschaftlich konditionierte Schwäche des Vaters" verhindere, dass das Kind sich mit ihm identifiziere. Die Kinder bemerkten "die Diskrepanz zwischen dem wirklichen, vom modernen Industrialismus bestimmten Wesen der Eltern und der Rolle, die sie in der Familie spielen", und sie sei verantwortlich "für die Verkümmerung ihres Gefühlslebens, die Verhärtung ihres Charakters, ihre frühreife Verwandlung in Erwachsene".

Es ist eine interessante Theorie, meilenweit entfernt von Fromms Spekulationen, dass die vermehrten Triebunterdrükkungen in Zeiten der Krise die Entstehung autoritärer, sadomasochistischer Charaktere begünstigten, ebenso weit entfernt von den Hoffnungen der späteren antiautoritären Bewegung, die Beseitigung der elterlichen Autoritäten müsse die unautoritäre, demokratische Persönlichkeit hervorbringen. Ihr die Mutter betreffender Teil ist im Einklang mit den Theorien des Bindungsverhaltens; ihr den Vater betreffender Teil geht über diese hinaus. Es ist klar, Horkheimer machte nicht ein Zuviel an väterlicher Autorität für die Verhärtung des Menschen verantwortlich, sondern ein Zuwenig, genauer: Das Kind findet zu oft nur eine falsche Autorität vor, eine Autoritätsattrappe, die es durchschaut und ablehnt.

1919 hatte der Freud-Schüler Paul Federn das Wort von der "vaterlosen Gesellschaft" geprägt: der Gesellschaft, in der die Väter ihren Kindern gegenüber eine immer schwächere Rolle spielen und in der, obwohl de facto viel Macht ausgeübt wird, auch sonst in der Gesellschaft niemand und nichts mehr eine wirkliche Autorität verkörpert, niemand und nichts mehr respektiert wird. Was Horkheimer meinte, war etwas ähnliches: der Autoritätsverfall des Familienvaters.

Ist dies nun nicht ein Widerspruch: Einerseits scheint die starre, autoritäre Erziehung für die Ausbildung des autoritären Charakters verantwortlich zu sein; andererseits scheint die väterliche Autorität zu verblassen. Müsste da die "autoritäre Persönlichkeit" nicht aussterben?

Der Widerspruch löst sich sofort auf, wenn wir an den äußersten Polen zwei mögliche Formen der Autorität annehmen. Die eine ist die destruktive, negative Autorität, die dem Kind in der schwarzen Pädagogik entgegentritt: Sie regiert mit eisernen Verboten und Strafen, macht es klein und lächerlich, diszipliniert es willkürlich. Die andere ist die konstruktive, positive Autorität: Auch sie ist unverkennbar Autorität, stellt als solche Forderungen und Ansprüche und gibt nicht jeder Laune des Kindes nach, tut es aber auf dem Hintergrund einer nicht nur gespielten, nicht nur behaupteten, sondern immer fühlbaren, stetigen Liebe, die das Kind, was es auch tut, bedingungslos akzeptiert.

Die negative Autorität macht das Kind zum feindseligen Beziehungskrüppel, der leichten Beute autoritärer Ideologien. Wer daran interessiert ist, dass die Kinder zu selbständigen, demokratiefähigen Menschen aufwachsen, für den ist sie zu Recht das große Negativbild. Aber das bloße Fehlen der negativen Autorität, oder jeder Autorität, genügt noch nicht. Damit aus dem Kind ein selbständiger, beziehungsfähiger, verantwortlicher Mensch wird, muss es früh möglichst viel positive Autorität erfahren. Dass die Menschen in der industriell-bürokratischen Großgesellschaft sich selber so oft als nichtig erleben, dass sie auf ihre entfremdete Arbeit keinen Stolz entwickeln können, dass sie auch sonst wenig Bestätigung für irgendein Tun und Lassen erhalten, dass sie menschliche Anerkennung suchen und nicht finden und mit der Anhäufung der bloßen Symbole der Anerkennung, Geld und Besitz kompensieren, dass sie sich nirgends zugehörig fühlen und mit ihrer Gesellschaft und deren Autoritäten so oft nicht einverstanden sind und es vermeiden, sich mit ihr zu identifizieren – all dies beschädigt ihr Selbstbewusstsein und macht sie auch ihren Kindern gegenüber unsicher. Und es ist anzunehmen, dass Menschen mit einem beschädigten Selbstbewusstsein ihren Kindern gegenüber eher eine destruktive Autorität an den Tag legen oder eine unsichere Autorität, die sich selber keinen Glauben schenkt.

Sind dies bloße Spekulationen? 1967 hat die amerikanische Psychologin Diana Baumrind eine kleine, aber sprechende Probe aufs Exempel gemacht. Sie untersuchte 32 drei- bis vierjährige kalifornische Kindergartenkinder und brachte in Erfahrung, welcher Art ihr Familienhintergrund war.

Eine Gruppe von Kindern war dabei, die waren selbstbeherrscht, selbstbewusst, neugierig, gesellig, realistisch, kompetent, zufrieden und wussten sich durchzusetzen – sie waren all das, was das Ideal des autonomen Menschen meint. Ihre Eltern, so stellte sich heraus, waren "beständig, liebevoll, gewissenhaft und sicher in ihrem Umgang mit den Kindern. Sie achteten die Entscheidungen ihres Kindes, ... begründeten ihre Anforderungen", zeigten jedoch "feste Kontrolle und stellten hohe Ansprüche an ihre Kinder".

Eine andere Gruppe dieser Kinder war unzufrieden, unsicher, furchtsam, weniger offen für Gleichaltrige, in Stress-Situationen eher feindselig. Ihre Eltern, so stellte sich heraus, waren weniger liebevoll, führten ein strenges Regime, begründeten ihre Forderungen nicht, ermutigten das Kind nicht, zu äußern, wenn es nicht einverstanden war.

Die dritte Gruppe schließlich umfasste jene Kinder, die die schwächste Selbstbeherrschung und das geringste Selbstvertrauen zeigten. Ihre Eltern waren selber unsicher und desorganisiert, stellten keine Ansprüche an ihre Kinder, setzten ihnen gegenüber nichts durch.

"Die Eltern der kompetentesten und reifsten Kinder", so resümierte Baumrind, "waren deutlich streng, liebe-, anspruchs- und verständnisvoll. Die Eltern der gereizten und ungeselligen Kinder waren streng, strafend und lieblos. Die Mütter der abhängigen, unreifen Kinder hatten nichts im Griff und waren nur mäßig liebevoll; ihre Väter waren ambivalent und lax. Die Spontaneität, Wärme und Lebensfreude der (kompetentesten und reifsten) Kinder wurde von der starken elterlichen Kontrolle nicht ungünstig beeinflusst."

Das ist es, was auch Konrad Lorenz meint: "Respekt und Liebe schließen sich nicht aus, im Gegenteil." Die schwarze Pädagogik bringt den autonomen Menschen gewiss nicht hervor, die totale Permissivität aber ebenso wenig. Seine größten Chancen hat er in der Atmosphäre einer unbedingten spontanen Liebe, und in einer solchen Atmosphäre verdirbt es den Charakter keineswegs, wenn an das Kind begründete Ansprüche gestellt werden. Man muss darum einen deutlichen semantischen Unterschied setzen und "autoritäres" von "autoritativem" Verhalten unterscheiden; jenes schadet, dieses nützt. Keiner dieser Befunde, keine dieser Theorien deutet darauf hin, dass die allergünstigste Bedingung für die Heranbildung des selbstbewussten, nichtautoritären Menschen die völlige Abschaffung der Familie wäre.

 

 

Nicht auf Adorno, Horkheimer, Frenkel-Brunswik, Bowlby, Bandura, Baumrind stützten sich die antiautoritären Pädagogen der ausgehenden 60er Jahre. Sie griffen weiter zurück. Der größte Einfluß auf ihre Erziehungsexperimente war der von Wilhelm Reich, der als Psychoanalytiker begann, in seiner mittleren Phase Freud und Marx zu verbinden suchte und schließlich zu einem Eigenbrötler wurde. Reich sah als Brutstätte allen Übels die Familie. Am knappsten und eindringlichsten steht seine damalige Theorie in seinem Buch Die sexuelle Revolution von 1945.

Das Kind habe, so sagte Reich als Psychoanalytiker, vor allem sexuelle Bedürfnisse. Sie richten sich im dritten Lebensjahr auf das gegengeschlechtliche Elternteil. Die Eltern, mit denen das Kind in der Kleinfamilie – Reich sagte "Zwangsfamilie" – unentwegt konfrontiert ist, müssen, "um das eheliche und familiäre Dasein ertragen zu können", selber ihre Sexualität einschränken und unterdrücken nun auch die Sexualität des Kindes. Das erzeugt in den Kindern im Laufe der Jahre einen "maßlosen Hass", und der wiederum erzeugt Schuldgefühle. Die riesigen Elternautoritäten erdrücken das Kind; dessen Selbstvertrauen, Willensstärke, Kritikfähigkeit leiden. So erzeugt die Zwangsfamilie den Sexualkrüppel und den "autoritätsfürchtigen lebensängstlichen Untertanen". Der konservative Staat benötigt die Familie; sie erzeugt ihm die Menschen, die er braucht. Es war nur logisch, wie Reich diesen Kreis aufzubrechen plante. Die Kinder, meinte er,  gehörten vom dritten Lebensjahr an in die Gesellschaft Gleichaltriger, in der sie ihre Sexualität frei entfalten können und darum frei bleiben von der Autoritätsneurose.

Das meiste davon ist wahrscheinlich falsch. Falsch ist es, den Menschen ausschließlich aus dem Schicksal seiner Sexualtriebe zu erklären; seine Bindung an die Eltern gehorcht viel umfassenderen Notwendigkeiten, viel weiteren Bedürfnissen. Falsch ist auch, dass die elterliche Autorität per se das Kind verdirbt und zum Untertan macht: Verdorben wird es nur von der lieblosen, kalten Autorität, die es nicht beschützen, sondern zerbrechen will. Konstruktive Autorität aber muss es sogar erfahren, damit es selbständig wird. Nur in einem Punkt könnte Reich, unabsichtlich fast, Recht gehabt haben: Vom dritten Lebensjahr ist der Umgang mit Gleichaltrigen in der Tat wichtig, und in dem Maße, in dem sie dem Kind diesen vorenthält, ist wohl die bürgerliche Kleinfamilie tatsächlich ungesund.

So könnte es sein. Es wäre vereinbar mit dem, was Franziska Henningsens Vergleichsstudie über antiautoritär und konventionell erzogene Kinder aus dem Jahre 1973 erbrachte. Sie untersuchte elf vier- bis sechsjährige Kinder aus Münchner antiautoritären Kinderläden, in denen das Prinzip "größtmögliches Gewährenlassen – minimales Versagen" herrschte, und verglich sie mit elf Kindern aus gewöhnlichen Kindergärten. Sie fand die Kinderladenkinder insgesamt selbstsicherer, freier, lebhafter, origineller. Alle von ihnen lebten jedoch bei den Eltern, und Henningsen sagt nichts darüber, ob sie auch zu Hause permissiv aufwuchsen. Das günstige Abschneiden der Kinderladenkinder kann durchaus darauf beruhen, dass sie zu Hause einer konstruktiveren Autorität ausgesetzt waren als die konventionell erzogenen Kinder – und dass sie mit Gleichaltrigen im Kinderladen freier, intensiver und selbständiger spielen konnten.

So kann es gewesen sein, so wird es sogar gewesen sein: Wenn man dies mit einiger Sicherheit behaupten kann, so vor allem aufgrund eines höchst eindrucksvollen, hierzulande unbekannt gebliebenen Buches. Seine Autoren sind zwei amerikanische Schriftsteller, John Rothchild und Susan Berns Wolf, die Mitte der siebziger Jahre ihre beiden eigenen Kinder nahmen und mit einem alten VW-Bus sechs Monate lang von Florida nach Kalifornien durch die amerikanische Subkultur zogen. Sie wollten sehen, welche Art von Kindern diese Subkultur hervorgebracht hatte. Sie besuchten politische Radikale, religiöse Sekten, Stadtkommunen, Landkommunen, alternative Gemeinschaften, lebten eine Weile mit ihnen, beobachteten die Kinder und die Eltern und beider Verhältnis zueinander. Sie selber sympathisierten mit dem alternativen Leben, aber die Sympathie trübte nicht ihren Blick; sie wussten, welche Kinder ihnen gefielen, und sie waren nicht bereit, weniger günstige Beobachtungen ideologisch zuzudecken oder überhaupt mit einer vorgefassten Theorie an ihre Beobachtungen heranzugehen. Das gibt ihrem Bericht seine Frische. Er erschien 1976 unter dem Titel Die Kinder der Subkultur.

Unter den alternativen Städtern fanden sie Leute, die alle Gebote und Verbote verabscheuten, die in einem "ständigen Kampf für ihre Freiheit" begriffen waren, gegen die "Bullen", gegen die Feinde der Drogen, gegen die Schulen, gegen die Arbeit; sie ließen ihre Kinder völlig frei aufwachsen, nötigten sie nicht einmal, sich die Zähne zu putzen oder zu einer bestimmten Zeit schlafen zu gehen. Alles durften die Kinder, jeder Versuch, sie in irgendetwas zu bremsen, wurde als "Faschismus" verdächtigt. Die Kinder dieser Freiheit von Autorität waren: ungesellig, gelangweilt, lustlos, gemein. Den einen Jungen beobachteten sie, wie er anderen Kindern das Spielzeug wegnahm und sie tyrannisierte. In einer Kommune hatten die völlig befreiten Kinder ihre Freiheit dazu benutzt, die ganze Kommune niederzubrennen. Die befreiten Kinder bemühten sich, irgendeine Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihren Eltern zu erhalten. Manchmal war ihr einziges Mittel, den Eltern zu widersprechen. So tat ein Junge genau das einzige, was seine Mutter nicht wünschte: Er lief zu den Harekrishnas über. Die Tochter einer Drogen-Enthusiastin, die in lässigster Unordnung und Kahlheit hauste, hatte sich ein eigenes Zimmer perfekt wie aus einer Wohnzeitschrift eingerichtet. Es scheint, die Kinder erlebten die Befreiung von der elterlichen Autorität vor allem als ein trostloses Im-Stich-gelassen-Werden.

Das genaue Gegenteil fanden Rothchild/Wolf in einigen Landkommunen vor. In einigen blieben die Kinder weitgehend an ihre Eltern oder ein Elternteil gebunden, in anderen war die ganze Gruppe für sie zuständig. In jedem Fall waren sowohl Eltern wie Kinder stark in die ganze Gruppe integriert, und in keinem Fall dachten die Erwachsenen daran, sich alles von den Kindern gefallen zu lassen. "Solange man den Kindern gegenüber unsicher ist, linken sie einen. Man muss geradeaus mit ihnen sein", war in einer Kommune das Motto. Diese Kinder wuchsen auf in großer physischer Freiheit. Kein Stundenplan regelte ihren Tag. Sie wurden weder ängstlich vor Gefahren behütet, noch, wenn die Erwachsenen ihre Konflikte miteinander ausmachten, vor starken emotionalen Schocks. Es gab keine Heimlichkeiten vor ihnen. Sie unterstanden einer strengeren emotionalen Disziplin als im bürgerlichen Leben, aber es war eine Disziplin von anderer Art. Die Erwachsenen sagten ihnen unmissverständlich, wenn sie sie unausstehlich fanden, warfen sie dann oft hinaus; sie ergingen sich jedoch nicht in allgemeinen moralischen Ermahnungen, sie appellierten nicht an das, was Rothchild/Wolf das "mythische Du" nennen ("du solltest dich schämen", "du willst das doch nicht wirklich"), sie kritisierten sie nicht im Hinblick auf die spätere Zukunft ("wenn du mal Fernfahrer werden willst, musst du fleißig sein"). Forderungen an die Kinder waren persönlich, spontan und unmittelbar. Die Kinder spielten viel miteinander, streiften zusammen frei durch die Landschaft, wurden aber früh angehalten, Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft zu übernehmen, und zwar wirkliche Aufgaben, keine zu pädagogischen Zwecken erfundenen Scheinaufgaben. Die so aufgewachsenen Kinder, fanden Rothchild/Wolf, würden wahrscheinlich keine ehrgeizigen Leuchten irgendeines Fachs draußen in der bürgerlichen Welt werden; aber es waren freiere, gesündere, umgänglichere, entspanntere, zufriedenere, selbständigere, verantwortungsvollere Kinder als die der bürgerlichen Welt; auch noch als Teenager waren sie ohne Feindseligkeit und Aufsässigkeit.

 

 

Der Charakter, wie früher rundheraus hieß, was heute mühsam als 'Persönlichkeitsstruktur' bezeichnet wird, ist vorerst unauslotbar, und niemand kann vorgeben, genau zu verstehen, welche inneren und äußeren Kräfte ihn formen und verformen. Neben den lebensgeschichtlichen Erfahrungen besonders in den prägenden Jahren der frühen Kindheit spielen zweifellos konstitutionelle Momente eine Rolle – Persönlichkeitsmerkmale werden teilweise vererbt, und auch das erklärt mit, warum etwa dominante und extrovertierte Eltern eher dominante und extrovertierte Kinder haben als ihr Gegenteil. Und nicht zu vergessen ist, dass der Mensch sich mitsamt all seinen erworbenen und ererbten Eigenschaften nahezu jeder Situation anpasst. Wie sich in dem Haftexperiment Zimbardos gezeigt hat, hat jeder in sich das Zeug zum Tyrannen und zum Opfer; oder wenn er aufgrund seines Charakters eher zu dem einen als dem anderen taugen sollte, setzt sich eine starke Situation über solche Dispositionen hinweg – was einem Beobachter dann als Charakter erscheint, ist zu einem großen Teil nur die Antwort auf die Nötigungen der jeweiligen Situation. So weit aber die Lebensgeschichte verantwortlich ist für die Prägung des Charakters, scheinen die kritischen Bedingungen klar zu sein: Der Mensch ist darauf angelegt, in seinen ersten Lebensjahren die stetige Liebe und den Schutz einer festen Bezugsperson zu genießen, sie etwa vom dritten Lebensjahr an für immer größere Zeitspannen zu verlassen, um mit Gleichaltrigen die Welt zu erkunden und früh verantwortungsvolle Aufgaben für die Gemeinschaft übertragen zu bekommen. Völlige Permissivität macht ihn nicht autonom. Dass ihm Eltern und andere Erwachsenen als mächtige Autoritäten erscheinen, ist nicht nur unvermeidlich, sondern richtet auch keine Charakterschäden an. Was ihm schadet, ist lieblose, feindselige Autorität; und es ist die Behinderung seiner immer ernster werdenden Spiele in den Gleichaltrigengruppen, wie sie in der in Kleinfamilienzellen aufgelösten städtischen Großgesellschaft gang und gäbe ist. Was hier durchschlägt, ist die Sehnsucht nach archaischen Verhältnissen: nach dem "Milieu der evolutionären Angepaßtheit", auf das das Fühlen des Menschen abgestimmt ist und das er nicht ohne seelische Schwierigkeiten verlassen hat.

 

 

Seit den frühen 70er Jahren simuliert der Bamberger Denkpsychologe Dietrich Dörner komplexe Wirklichkeiten auf dem Computer: Entwicklungsländer, Handwerkerbetriebe, Kommunen, Bauernhöfe, Länderverbünde – unübersehbar komplizierte, eng vernetzte, in Bewegung befindliche Systeme. Die Versuchspersonen haben die Möglichkeit, in sie einzugreifen und den weiteren Verlauf zu steuern. Manche sind geschickt im Umgang mit solchen hochkomplexen Systemen, für deren Behandlung ihnen keine Rezepte und Strategien vorgegeben werden, sodass sie die Probleme alleine analysieren, sich die Aufgaben alleine stellen müssen. Ihre Systeme bleiben stabil oder florieren sogar. Andere wirtschaften sie schnell herunter. Diese der Aufgabe nicht gewachsenen Versuchspersonen waren weder unintelligenter noch unkreativer als die anderen; es waren bei ihnen nur einige Eigenschaften, die alle in irgendeinem Maße besaßen, in besonders krasser Weise ausgeprägt. Vor allem hatten sie eine Neigung, sich den kritischen Problemen zu entziehen und sich irgendwelchen Nebenfragen zu widmen, während ringsumher die Welt unterging – sie dämmerten der Katastrophe entgegen; wenn sie aber handelten, neigten sie zu übertriebenen und ineffektiven Gewaltaktionen ("Erschießungen" oder der Einrichtung von Arbeitslagern). Sie waren nicht selbstkritisch und suchten die Schuld für den Niedergang des Systems nicht bei sich, immer bei anderen. Sie neigten dazu, nur wenige und nur simple Ursachen für ihren Misserfolg ins Auge zu fassen, sodass sie auch nur auf einem engen Bereich handelten und alle anderen Möglichkeiten übersahen. "Kann man", fragte Dörner, "aus den Verhaltenstendenzen zur Abschiebung der Verantwortung und zur Exkulpation, bei gleichzeitiger Verminderung der Handlungsbereitschaft, nicht ableiten, dass eine erhöhte Bereitschaft zur Unterordnung unter die Führerschaft von Personen oder Institutionen besteht, die behaupten oder glaubhaft machen, dass sie über die richtigen Handlungskonzepte verfügen? ... Die Tendenz zum Abschieben der Verantwortung, die Angst vor dem Handeln bei gleichzeitigem Gefühl, dass gehandelt werden muss, und die Tendenz zur reduktiven Hypothesenbildung bilden … ein Potenzial, welches zur Übernahme totalitärer (d. h. die gesamte Welt erklärender) Theorien und Ideologien determiniert bei gleichzeitiger Bereitschaft, selbst aufs Handeln zu verzichten und dieses anderen ('kompetenteren'?) Institutionen zu überlassen." Ohne Absicht erblickte Dörner also auch in diesen Experimenten von fern so etwas wie die potenziell autoritäre, die potenziell faschistische Persönlichkeit. Aus dieser Sicht ergibt sie sich aus dem Stil, wie einer komplizierte Probleme anpackt und welche Fähigkeit er mitbringt, Krisen durchzustehen. Die autoritäre Persönlichkeit dieser Experimente ist die, die "kognitiven Stress" nur schwer aushält und sich der Schwierigkeiten mit gewalttätigen und unangemessenen Kurzschlusshandlungen zu erwehren sucht.

 

 

Die protestierende Jugend: Rebelliert sie gegen zu viel Autorität in Familie und Gesellschaft, oder rebelliert sie, weil die Autoritäten im Gegenteil verblassen?

Bei der Fahndung nach den Ursachen des Protests werden oft drei Kategorien von Ursachen vermengt, und entsprechend verwirrt sich die Diskussion. Der Protest hat Anlässe, er hat Gründe, und er hat Hintergrundmotive.

Die Anlässe sind immer das Greifbarste, aber auch das Belangloseste. Keine Protestdemo wäre unterblieben, wenn die Behörden etwa die Zuschüsse zu einem Jugendzentrum nicht verweigert hätten.

Die Gründe sind die vorzeigbaren, diskutierbaren, die politischen Ursachen: Vietnamkrieg, Atomrüstung, Kernkraftnutzung, Schulpolitik, Wohnungsprobleme. Sie wechseln, aber die Protestbewegungen bleiben, schaukeln sich langsam auf, zerfallen, entstehen neu. Selbstverständlich können die Gründe richtig oder falsch, besser oder schlechter sein. Die Welt der Älteren ist nicht in Ordnung und war es nie: An Gründen für den Protest fehlt es nicht, und manchen Gründen schließen sich viele Erwachsene an.

Worüber nicht gesprochen wird, als wären sie etwas Unkeusches, sind die Hintergrundmotive. So ephemer oft die Anlässe, so wechselnd die Gründe: Das Konstante an den Protesten bleibt, dass es immer und überall Jugendliche sind, die in dieser Form rebellieren (und nicht auch einmal andere Bevölkerungsgruppen, die sich ja nicht weniger benachteiligt und ungehört fühlen), und zwar typischerweise vor allem Schüler, Studenten, Arbeitslose. Peter Schneider, aktiv beteiligt an der 68er Bewegung, sah das früh: "Es war keine politische, es war eine Jugendbewegung, mit allen Vor– und Nachteilen einer solchen." Rothchild/Wolf, die in den Vereinigten Staaten dazugehört hatten, schreiben: "All jene Kämpfe um Selbstbestätigung gehörten so sehr zu den Wachstumsschmerzen junger Leute, dass man sie als raffiniert-komplizierte Pubertätsriten abtun konnte. Damals gehörte ich zur protestierenden Generation und konnte das nicht so sehen, aber heute sehe ich es so." Es handelt sich also um Ablösungsvorgänge, und zwar im doppelten Sinn: Die Heranwachsenden lösen sich aus der Welt der Eltern, sie treten ihr herausfordernd gegenüber, sie melden den Anspruch an, die Älteren abzulösen.

Wenn es sich jedoch um einen sozusagen naturnotwendigen Vorgang handelt, um den Teil eines allgemeinen, quasi organischen Lebensprogramms, und wenn es überdies immer gute Gründe gegeben hätte: Warum hat es dann vor den 1950er Jahren jugendliche Protestbewegungen nicht oder nur in Ansätzen gegeben?

Die amerikanischen Sozialpsychologen Kenneth Keniston und Richard Flacks vertreten die Ansicht, es liebe an der Diskrepanz zwischen den liberalen Elternhäusern, die heute vorherrschen, und den harschen, unpersönlichen Zwängen des Universitäts- und Berufslebens, in das die an Freiheit und Fürsorge gewohnten Kinder plötzlich entlassen werden. Die Jugend sei nicht darauf gerüstet, diesen Klimawechsel zu ertragen, und sie schicke sich in ihn nur unter Protest.

Ich meine, dass dies höchstens ein verstärkendes Moment ist. Den Ausschlag gibt meiner Meinung nach etwas anderes: Die Pubertät hat sich in den letzten Jahrhunderten um einige Jahre nach vorn verschoben: Kinder werden früher körperlich erwachsen. Gleichzeitig hat sich das soziale Erwachsenwerden immer weiter hinausgezögert: Die Berufsausbildung dauert für immer mehr junge Leute immer länger; neuerdings haben viele gar keine Berufsperspektive mehr. Zwischen Reife und Erwachsensein tut sich ein immer weiter werdendes Niemandsland auf. Viele fallen, wenn sie sich aus dem Elternhaus lösen, aus allen sinnvollen Bezügen. Sie erfahren keine Bestätigung für das, was sie sind und was sie tun; sie können tun, was sie wollen, und es auch lassen; sie "hängen herum"; nichts von dem, was sie tun, gibt ihnen das Gefühl, es sei eine vollwertige, verantwortliche Betätigung. Diese frustrierende Vorenthaltung des Erwachsenenstatus entlädt sich in Aktionen des Protests. In den modernen Großgesellschaften sind die Pubertäts- und Initiationsriten, die bei allen archaischen Kulturen zu finden sind, nicht aus Zufall zu unwirksamen, unverbindlichen und teils lächerlichen Rudimenten verkümmert. Die Vorenthaltung des Erwachsenenstatus ist unnatürlich, aber sie ist angesichts der wachsenden Menge dessen, was zu lernen ist, unausbleiblich, und darum werden auch die jugendlichen Protestbewegungen ein bleibendes Kennzeichen dieser Gesellschaften sein.

Was bewegt die Jugendlichen? Es liegt, wenn man hinhört, offen auf dem Tisch. Der ehemalige Schweizer Manager Hans A. Pestalozzi, der sich der Jugendbewegung angeschlossen hat, drückte es mit ganzer Klarheit aus: "Konsum (kann) nie die Befriedigung von Gefühlen bringen, wie einem vorgegaukelt wird von der Wirtschaft ... Ich muss empfindsam sein, ich muss Emotionen haben, muss Gefühl haben können, und zwar auch den Mitmenschen gegenüber. Ich muss den Menschen spüren können, ich muss den riechen können, ich muss ihn sehen können." Ein Zürcher Jugendlicher sagte: "Wir gewinnen ein großes Gefühl der Zusammengehörigkeit, wenn wir demonstrieren, da haben wir zum ersten Mal erlebt, dass was los ist, dass mal die Welt wieder schön ist, auch in dieser Lust an der Zerstörung." Ein Mädchen beschreibt, wie sie zur Bewegung gestoßen ist: "Da war wahnsinnig viel los, eine irre gute Stimmung gab's vor dem Opernhaus, wo sich Hunderte junger Leute versammelt hatten. Wir haben uns schaurig verbunden gefühlt untereinander." Ein Junge antwortet ihr: "Du, mir ging es genauso, der Abend gab uns ein unheimlich befreiendes Gefühl. Plötzlich erlebst du, wie Hunderte andere genauso empfinden und das gleiche wollen wie du."

Es ist also ganz offensichtlich, was diese Jugendlichen suchen: Gemeinschaftsgefühle. Die Kleinfamilien, aus denen sie kommen, befriedigen ihre Gemeinschaftsbedürfnisse nicht; vollwertige, verantwortliche Betätigung bleibt ihnen vorenthalten. Sie wollen einander fühlen, und sie wollen zusammen etwas tun, das ihnen ein Gefühl von Wichtigkeit gibt. Sie wollen unter sich sein und danken es den Älteren wenig, wenn sie sich besorgt über sie beugen und sich in ihre Sachen einmischen. Sie fordern die Älteren heraus: Mit Furcht und Faszination zugleich provozieren sie die von "den Bullen" vertretene Elterngeneration. Werden sie in einer Konfrontation zusammengeschlagen, so ist das schlimm für sie; aber enttäuschend ist es auch, wenn diese Konfrontation ausbleibt. Sie wollen nicht das komfortable Wohlleben für sich, gerade das nicht – sie wollen etwas für die Gemeinschaft tun und darin anders sein als die eigennützigen Älteren; sie bringen Opfer, ihr Protest gewinnt leicht einen fast schrillen moralischen Unterton.

Untereinander aber sind Konformitätsdruck und Konformitätsbedürfnis nicht geringer, meist sogar stärker als in der Erwachsenenwelt; untereinander sind sie angepasst. An die Erwachsenenwelt, ihre Umgangsformen und Werte, sind sie demonstrativ nicht angepasst. Darum ist es falsch, sie entweder als angepasst oder als nichtangepasst zu bezeichnen; sie sind beides, und zwar in hohem Grad.

Mit den eigenen Eltern und Lehrern kommen viele von ihnen gar nicht schlecht zurecht; ihr Leben lehnen sie für sich dennoch ab. Die Frage, ob sie zu viel oder zu wenig Autorität erfahren haben, ist darum wohl von vornherein falsch. Sie haben auf jeden Fall viel destruktive Autorität kennengelernt, wenn nicht in der eigenen Familie, dann in dem weiteren Umkreis. Und was sich in ihrem Leben als Autorität geltend macht, ist vorwiegend unpersönliche, funktionale Autorität.

Denn dies ist wohl unsere Hauptschwierigkeit mit der Autorität überhaupt. Nichts deutet darauf hin, dass der einzelne unüberwindliche Schwierigkeiten hätte, persönliche Autorität zu respektieren. Der Freund oder Nachbar oder Kollege, der in irgendeiner Hinsicht sichtbar überlegen ist, stärker, sportlicher, intelligenter, musikalischer, feinfühliger, geselliger, entschlussfreudiger, füllt einen gewöhnlich nicht mit unerträglichem Neid und fordert einen nicht zur Rebellion gegen ihn heraus. Man bewundert ihn, erkennt ihn an, überlässt ihm wo nötig das Sagen. Nicht zufällig war es gerade ein Japaner, der Psychiater Takeo Do, der in seinen Arbeiten über die Anatomie der Abhängigkeit aufzeigte, dass die Träume von der völligen Autonomie des Individuums, seiner Selbstgenügsamkeit und Autarkie, keine schlechthin menschlichen Sehnsüchte ausdrücken, sondern eine westliche Idee sind, und wohl eine Wahnidee: Der Mensch will sich anderen anvertrauen, anheimgehen, er will bewundern, er hat ein Bedürfnis nach "passiver Liebe" und Fürsorge und Anleitung und ein Anrecht darauf, und eine Gesellschaft aus lauter selbstherrlichen Individuen, von denen sich keiner je dem anderen fügt, keiner den anderen respektiert, wäre eine Gesellschaft von Monstern.

Was dem Menschen unbehebbare Schwierigkeiten macht, ist etwas anderes. Es ist: die falsche Autorität, die nur scheinbar fürsorglich ist oder deren Ansprüche auf Fügsamkeit auf keine einsehbaren erfahrbaren Qualifikationen beruhen. Es ist: die destruktive Autorität, die eine mit Recht und Gesetz ausgestattete Feindseligkeit ist. Und es ist die funktionale Autorität, die ihm in allen gesellschaftlichen Hierarchien, in die er eingesponnen ist, entgegentritt. Diesen dreien hätten die Rebellionen gelten. Denn den  Menschen ist das Gefühl nicht auszutreiben, dass sie nicht darauf eingerichtet sind, sich mit ihnen abzufinden.

Ein Bild der Autorität gibt es, das mich selber rührt. Im brasilianischen Urwald wohnt der Stamm der Nambikwara. Bei den Nambikwara, so schreibt der französische Ethologe Claude Lévi-Strauss, ist die politische Macht nicht erblich. Ein alter oder kranker Häuptling wählt selber seinen Nachfolger. Er tut es jedoch in Übereinstimmung mit den Wünschen der ganzen Gruppe. Nur wer deren Vertrauen besitzt, kann tatsächlich Häuptling werden. Er besitzt keine Machtinstrumente. Was ihm Gefolgschaft sichert, ist allein seine Autorität. Sie besteht vor allem in seiner Großzügigkeit: Er muss mehr haben als seine Leute, aber nur, um ihnen davon reichlich abzugeben. Er muss, als "intellektuelle Form der Großzügigkeit", über Kenntnisse und Einfallsreichtum verfügen: Er bereitet das Gift für die Pfeile zu, er kennt das Territorium besser als alle anderen und kann sie darum auf ihren Wanderungen und Jagden und beim Früchtesammeln kundig führen, er weiß, wo freundliche und feindliche Nachbarn leben, er wacht über die Interessen und die Sicherheit seiner Gruppe. Häuptling zu sein, bedeutet vor allem Mühe und Last und macht kaum stolz. Dafür darf er als einziger mehrere Frauen haben.

Es komme des öfteren vor, schreibt Lévi-Strauss, dass das Angebot der Macht entsetzt zurückgewiesen wird.

 

 


 

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