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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.45, 1.November 1974, S.20-21

Titel: "Der Streit um die Intelligenz (IV) – Das Vexierwort Gleichheit:

Wo aus Zahlen Politik wird"

© 1974 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

  

Die IQ-Kontroverse, 1974

IV

Von Dieter E. Zimmer

 

DASS DIE UNGLEICHHEIT in der Intelligenz der Menschen wahrscheinlich zu einem größeren Teil genetisch bedingt ist und durch Änderungen in der Umwelt nur zu einem kleineren Teil behoben werden kann, ist eine Erkenntnis, mit der sich auf ihre obersten Verfassungsgrundsätze ("daß alle Menschen gleich geboren sind ..." – nicht etwa: mit gleichen Rechten ausgestattet sind) eingeschworene, konservative Amerikaner ebenso unwillig abfinden wie jene, die das Reich der Gleichen ersehnen und darauf hinarbeiten.

            […]

            Sozialpolitische Folgerungen aus der IQ-Kontroverse haben viele gezogen, unter anderen William Shockley, Physikprofessor in Stanford, Miterfinder des Transistors und Nobelpreisträger; Richard Herrnstein, Psychologie-Professor in Harvard, und Noam Chomsky, der berühmte Harvarder Linguist.

            Shockley machte sich zu einem Kreuzritter in Sachen Eugenik. Von der Beobachtung ausgehend, daß sich die Hochintelligenten schwächer vermehren als die weniger Intelligenten […], sagt er der Menschheit die Katastrophe voraus: Sie werde immer dümmer, immer weniger fähig, mit der von ihr geschaffenen hochkomplizierten Zivilisation fertig zu werden. Also müsse man die weniger Intelligenten dazu bringen, sich schwächer zu vermehren. Shockley wurde in einem "Gedankenspiel" ganz konkret: Pro IQ-Punkt unter dem Durchschnitt sollte jedem, der auf Kinder verzichtet, eine Prämie von 1000 Dollar gezahlt werden. Einem Schwachsinnigen mit einem IQ von 70 würde der Staat demnach 30.000 Dollar bezahlen; und das, so Shockley, wäre billiger als die 250.000 Dollar Fürsorgeunterstützung, die der Staat aufwenden müßte, um die 20 Kinder zu versorgen, die er ja produzieren könnte.

            Ein abenteuerlicher Plan: Daß der IQ allgemein sinke, konnte bisher empirisch nicht bestätigt werden; möglicherweise wird die höhere Geburtenrate bei Leuten mit einem leicht unterdurchschnittlichen IQ dadurch wettgemacht, daß sich Menschen mit einem sehr niedrigen IQ gar nicht vermehren. Jensen über Shockley: "Seine Fragen sind schon vernünftig. Das Material reicht aber nicht aus, praktische Schlüsse dieser Reichweite zu ziehen. Shockleys Aktivitäten sind konterproduktiv."

            Anders steht es mit den Thesen Richard Herrnsteins, eines ironischen, bis zur Rechthaberei insistierenden Mannes, Schüler und jetziger Raumnachbar des Behavioristen B.F. Spinner und damit zunächst selber überzeugter Environmentalist. Zu werten oder gar Abhilfen vorzuschlagen, sieht er nicht als seine Sache an; er will nur konstatieren.

            Das Ideal unserer Gesellschaft, davon geht er aus, ist die Mobilität [später in Deutschland 'Durchlässigkeit' genannt]: Der Intelligente und Tüchtige soll in ihr nach "oben" gelangen, der Untüchtige nach "unten". In dem Maße, in dem Einflüsse ausgeschaltet werden, die diese Mobilität bremsen (zum Beispiel dadurch, daß manche Intelligente nicht studieren können, weil sie zu arm sind und Geld verdienen müssen; oder daß weniger Intelligente durch die Protektion der Oberklassenkreise, denen sie entstammen, "oben" gehalten werden), bluteten die unteren Sozialklassen sozusagen intellektuell aus. Die Gesellschaft gliedere sich zunehmend in erbliche Intelligenzkasten. Es entstünde eine neue, in ihrer Gliederung vom IQ bestimmte Gesellschaft, eine "Meritokratie".

            Herrnsteins These ist bisher nur eine empirisch unbestätigte Vermutung. Es könnte sein, daß sie sich, wie Hans Jürgen Eysenck meint, gerade nach den Erbgesetzen nie erfüllt: dann nämlich, wenn die Regression zum Mittel ihr stark genug entgegenwirkt die Tatsache, daß Hochintelligente wahrscheinlich weniger intelligente Kinder haben, Intelligenzschwache dagegen intelligentere. Gerade in der völlig mobilen Gesellschaft müßte dieses Auf und Ab die Heranbildung erblicher Kasten durchkreuzen.

            In dem Maß, in dem Mobilität gegeben ist, in dem also Begabung und nicht Herkunft darüber entscheidet, ob einer studiert und was er wird, ist jedenfalls nicht mehr zu erwarten, daß der IQ in allen Schichten der Gesellschaft gleich breit gestreut ist. (Im heutigen Amerika besteht zwischen der Schicht mit dem höchsten und der mit dem niedrigsten Status ein IQ-Unterschied von 28 Punkten.) In einer ganz oder wenigstens teilweise mobilen Gesellschaft und wer will bestreiten, daß wir immerhin auf dem Weg dahin sind? könnte man also auch nicht mehr davon ausgehen, daß in jeder Schicht ein gleiches Begabungspotential steckt. Je mehr die Barrieren weggeräumt werden, die Unterklassenkinder von der Bildung ausschließen, um so weniger wahrscheinlich wird, was Bildungsreformern, die an die unbegrenzte Plastizität des Menschen glauben, als Leitschnur gilt: daß jede Schicht eine ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechende Zahl von Oberschülern oder Studenten stellt.

            Diese mobile Gesellschaft allerdings wird ungemütlich und grausam sein: "Kasten- und Klassengesellschaften vergeudeten genetisches Talent auf unverzeihliche Weise, wenn dieses in den unteren Gesellschaftsrängen auftauchte.  Doch muß zugegeben werden, daß in solchen Gesellschaften die üblen Aspekte des Konkurrenzkampfs gemildert werden" (Dobzhansky).

            In einem Aufsatz mit dem Titel "Der Trugschluß von Herrnsteins IQ" versuchte Noam Chomsky, Herrnsteins Position aus marxistischer Sicht zu demontieren. Herrnsteins Theorie, so Chomsky, stehe und falle mit der Annahme, daß die Menschen Arbeit nicht um ihrer selbst willen tun, sondern nur, weil sie dafür belohnt werden. Sie gelte also nur für die Konkurrenzgesellschaft. "Wenn diese Annahme falsch ist und die Gesellschaft mehr oder weniger im Einklang mit dem sozialistischen Prinzip organisiert werden kann, bleibt von Herrnsteins Theorie nichts übrig."

            Herrnstein antwortete in der Zeitschrift Cognition unter dem ironischen Titel "Was ist nur aus dem Vaudeville geworden?" (es ist nämlich verschwunden, weil sich andere Formen der Unterhaltung etabliert haben, in der ein Entertainer heute eher reüssiert): "Wenn Leistungen von einer Gesellschaft nicht mehr mit jenen Belohnungen bedacht werden, die sie zu vergeben hat, dann hinge der Erfolg tatsächlich in keiner signifikanten Weise mehr von den intellektuellen Fähigkeiten ab, und meine Prämisse wäre falsch. Aber jetzt tut Professor Chomsky etwas Sonderbares. Statt eine hypothetische Gesellschaft ohne differenzierte Belohnungen zu beschreiben, postuliert er eine Gesellschaft, in der Leistungen 'nur durch Prestige' honoriert werden: "Werden sie aber doch differenziert honoriert, so hat mein Syllogismus wieder Gültigkeit. Warum, mag sich Chomsky fragen, kann ich mir seinen revolutionären neuen Menschen nicht vorstellen, der der anständigen Gesellschaft um keiner anderen Belohnung willen als jener dient, eine nützliche Arbeit gut verrichtet zu haben? Die Antwort ist, daß ich weiß, was früher geschah, wenn der Staat seinen Bürgern auftrug, gut und produktiv zu seinen Gunsten (gewöhnlich im Namen des 'Volks') zu sein ... Die Geschichte ermuntert zu keinen weiteren Abenteuern dieser Art. Bald nachdem die Führer entdecken, daß auf die Selbstlosigkeit kein Verlaß ist, führen sie eine Skala von Strafen ein, die zwar ebenso geeignet sein mögen, die Leute zur Arbeit zu bewegen, wie unsere Skala der Belohnungen, nur ist sie grausamer." Die Last für den Beweis, daß eine Gesellschaft ganz ohne Belohnungen und Strafen organisiert werden kann, liege bei Chomsky.

            An einer solchen Stelle wird sichtbar, welche politischen, anthropologischen und philosophischen Implikationen der Streit der Wissenschaftler um die richtige Interpretation ihrer Daten wirklich hat. Der amerikanische Biologe William Havender (Berkeley): "Der eigentliche Disput vollzieht sich zwischen denen, die das Individuum als Grundelement der Gesellschaft ansehen, dessen gerechte oder ungerechte Behandlung darüber entscheidet, ob die Gesellschaft als ganze fair ist (Liberalismus), und zwischen jenen, für die Gruppen eine eigene Realität als irreduktible Elemente sozialer Gerechtigkeit angenommen haben. Unter der Oberfläche erkennen wir unsere alten Bekannten Individualismus und Kollektivismus die wahren Kräfte, die um die Gefolgschaft des modernen Menschen kämpfen."

            Besonders Arthur Jensen hat es immer wieder betont: Die Schulen sollen die individuellen Fähigkeiten fördern. Es sei schon im Ansatz falsch, allen eine möglichst gleichartige Ausbildung zu verordnen; gerade um den erheblichen, von genetischen wie Umweltfaktoren bedingten Unterschieden entgegenzuwirken, sei es nötig, das Bildungssystem so weit wie irgend möglich zu differenzieren. Je weniger es sich differenziere, um so stärker wirksam würden die genetischen Unterschiede.

            Jensen geht so weit, den Schulen zu empfehlen, sie sollten den g-Faktor nicht länger so hoch bewerten wie bisher, zumindest sollte er in den Schulen keine größere Rolle spielen als später im Leben. Er glaubt auch, bei seinen Recherchen auf zwei deutlich voneinander trennbare Lernebenen gestoßen zu sein: die des assoziativen Lernens (durch Imitation und Wiederholung), die bei allen Menschen etwa gleich entwicklungsfähig sei und bei der auch keine ethnischen Diskrepanzen zum Vorschein kämen; und eine andere Ebene, bei der es auf die Fähigkeit zu abstrakten Umsetzungen ankomme. Auf beiden sollten die Lernenden Förderung erfahren.

            Insgesamt hat er, neben anderen, für die pädagogische Psychologie damit eine der wichtigsten Aufgaben abgesteckt: zu erforschen, welche Methoden welchen Schülern am meisten zugutekommen; und die Ergebnisse so zu sortieren, daß sie sich auch in den Schulalltag einbauen lassen. Zum Beispiel könnte sich herausstellen, daß manche Kinder Lesen und Schreiben besser auf "synthetische", andere besser auf "analytische" Weise lernen. Sollte es sich so verhalten, dann wäre es Unfug, alle Schüler nach der einen gerade en vogue befindlichen Methode zu unterrichten oder nach einem ad hoc zusammengeworfenen Mischmasch aus beiden. Dann müßte die pädagogische Psychologie Tests entwickeln, um die beiden Lerncharaktere frühzeitig zu unterscheiden; dann müßten schließlich die Klassen unter diesem Gesichtspunkt zusammengestellt werden.

            Was die Gleichheit angeht, so nimmt sie sich, aus der Distanz betrachtet, wie ein Vexierwort aus. Gleichheit, equality, égalité, Rousseaus schillerndes Vermächtnis, der Mittelpfeiler der französischen Revolution: Was ist das? Sollen sich alle immer ähnlicher werden? Die Biologie weiß, daß keine zwei Menschen einander gleich sind, daß die Menschheit die Zahl statistisch möglicher genetischer Kombinationen niemals ausschöpfen wird.

            Es liegt nahe, sich dem Dilemma zu entwinden, indem man sagt: Es gebe eben zwei Arten von Gleichheit, die (unmögliche) natürliche Gleichartigkeit und das moralische und politische Prinzip der Egalität, der Gleichberechtigung. Es liegt nahe, und dennoch kann man sich mit einer solchen säuberlichen Trennung nicht zufrieden geben. Die natürliche Ungleichheit ist schließlich nicht ohne Einfluß darauf, wieweit einer das proklamierte Egalitätsprinzip in Anspruch nehmen kann. Auch wenn, zum Beispiel, allen die gleiche Behandlung vor dem Richter versprochen ist: der Intelligentere wird sich besser verteidigen, er wird es  leichter haben, die Richter seinesgleichen für sich einzunehmen oder hinters Licht zu führen, er genießt den sichtbaren und unsichtbaren Schutz seiner Herkunft, er wird notfalls einfach die besseren Anwälte engagieren.

             An einem solchen Punkt stößt aller wohlmeinende Liberalismus, dem das Individuum über alles geht, denn auch an seine Grenzen. Hier taucht die wahrhaft politische Frage auf, wie groß die materiellen Unterschiede zwischen den Menschen tatsächlich sein müssen, damit die Gesellschaft nicht funktionsunfähig wird. Die Frage auch, ob nicht doch benachteiligten Gruppen als Gruppen geholfen werden müßte.

            Noch besteht, wie sich gezeigt hat, der Zustand der Chancengleichheit nicht. Noch ist er eine Aufgabe. Aber wenn Chancengleichheit nur heißt: dem Tüchtigen, bestenfalls dem Intelligenten freie Bahn und dem weniger Intelligenten keine Privilegien dann ist es mit ihr allein offenbar noch nicht getan. Gerade die Einsicht in unaufhebbare erbliche Unterschiede zwingt dazu, über eine solche Chancengleichheit hinauszudenken. Der Glaube an die Milieutheorie mit ihrer trügerischen Zuversicht, durch eine Einebnung der Umwelt allmählich auch die Ungleichheit aus der Welt zu schaffen, hat die wirkliche Frage nach einer gerechten und funktionstüchtigen Ordnung unter Ungleichen nur vernebelt. Sollen denn nur die einen möglichst mühelos zum Erfolg brausen können und die anderen, schon von Natur her Benachteiligten (und auch dann immer noch Benachteiligten, wenn der Spielraum für Umweltbeeinflussungen ausgeschöpft ist) irgendwo ohne Hoffnung zurückbleiben, "drunten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen"?

            Die Intelligenz-Kontroverse hätte darum mißverstanden, wer meinte, den Begriff Solidarität hinfort aus seinem Vokabular streichen zu können; wer ihr entnähme, daß es am Status quo nichts zu ändern gibt.

 

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