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DIE ZEIT/Wissen, Nr.18, 30.April 1998, S.33

Titel: «Unterschied Umwelt»

Manuskriptfassung

© 1998 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

  

IQ Revisited, 1998

III

Die beiden Umwelten

Von Dieter E. Zimmer

 

DER RENOMMIERTE Verhaltensgenetiker Robert Plomin nannte es die aufregendste Entdeckung seines Fachs überhaupt. Sie verbirgt sich hinter der lapidaren Formulierung: «Die Einflüsse, die in der Verhaltensentwicklung den Ausschlag geben, sind ungeteilter Art [non-shared], das heißt, sie machen die Kinder in einer Familie eher voneinander verschieden als einander ähnlich.»

Die Erkenntnis war langsam herangedämmert, ging aber so gegen den Strich aller Erwartungen, daß sie erst gegen Ende der achtziger Jahre voll erfaßt wurde. Ihre Implikationen wurden bis heute weithin nicht begriffen.

Wenn die Verhaltensgenetik die Erblichkeit des IQ oder anderer biometrischer Merkmale berechnet, berechnet sie eo ipso immer auch sozusagen die «Umweltlichkeit» – also das Ausmaß, in dem in einer Menschengruppe individuelle Unterschiede auf Einwirkungen der Umwelt zurückgehen. Die Erblichkeit im engen Sinn der Verhaltensgenetik ist ja nichts anderes als jener Teil der Varianz (der in einer statistischen Zahl ausgedrückten Verschiedenheit), der übrigbleibt, wenn man die umweltbedingte von der gesamten Varianz abzieht.

Wie kommt die Verhaltensgenetik zu ihren Erblichkeitsberechnungen? Durch geeignete Verwandtschaftsvergleiche.

Manche Vergleiche sind nichtssagend. Wenn Kinder ihren Eltern gleichen, dann könnte das daran liegen, daß sie mit Mutter und Vater je die Hälfte ihrer Gene gemein haben. Die Ähnlichkeit könnte aber auch darauf zurückgehen, daß sie in der gleichen Umwelt groß werden. Ein solcher Vergleich macht einen also überhaupt nicht klüger.

Aber die Schwierigkeit, daß Gene und Umwelt in der Regel zusammen an die Kinder weitergegeben werden, läßt sich austricksen: indem man Menschen bekannten genetischen Verwandtschaftsgrades in verschiedenen Umwelten vergleicht, am schlagendsten durch den Vergleich eineiiger Zwillinge. Diese sind genetisch identisch. Also müssen sämtliche Unterschiede zwischen ihnen (und sie sind sich nie völlig gleich) nichtgenetische, also «umweltliche» Ursachen haben. Sind sie zusammen aufgewachsen, könnte jedoch ein unbekannt großer Teil ihrer Ähnlichkeit auf nichtgenetische Ursachen zurückgehen, denn sie hätten ja nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt gemein. Sind sie aber – es gibt diese raren Fälle – in verschiedenen Familien und ohne Kontakt zu ihren leiblichen Angehörigen aufgewachsen, so muß alle ihre Ähnlichkeit genetisch begründet sein; eine kulturelle Transmission von den Eltern auf die Kinder hat ja bei ihnen nicht stattgefunden. Dies ist der aussagekräftigste und überzeugendste Vergleich, den das Leben zu bieten hat: der Vergleich getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge.

Die Gegenprobe liefert der umgekehrte Fall: Kinder, die früh zu Adoptiveltern kommen und mit deren leiblichen Kindern groß werden. Mit diesen haben sie gar keine Gene, aber die ganze familiäre Umwelt gemein.

Die Erblichkeit der Verhaltensgenetik ist eine reine Außenansicht. Sie gibt keinerlei Aufschluß darüber, welche Gene zu welchem Zeitpunkt mit welchen Umweltbedingungen in Wechselwirkung getreten sind, um einen bestimmten Phänotyp hervorzubringen. Man weiß nur, und man könnte Gift darauf nehmen: Wenn ein Merkmal eine gewisse Erblichkeit aufweist, wird es Gene dafür geben, und eines Tages wird man sie auch finden.

Genausowenig läßt sich der Rechnung ansehen, welche speziellen Umweltbedingungen es waren, die Unterschiede hervorgebracht haben. Im Verdacht haben kann man alles, von der Ernährung über die Schulverhältnisse bis zum Gefühlsklima innerhalb einer Familie. Psychologie und Pädagogik aber hatten immer ausgemachte Lieblingsfaktoren, die sie für die wirksamsten hielten. Es war vor allem die Schichtzugehörigkeit und der Erziehungsstil. Die einen seien dies oder jenes mehr als die anderen, weil sie eben «aus anderen Verhältnissen» stammen, reicheren oder ärmeren, und weil die Kinder im Stil des entsprechenden Sozialmilieus erzogen werden.

Als nun aber die Verhaltensgenetik den Brocken «Umweltvarianz» näher unter die Lupe nahm und ermitteln wollte, welche Umweltfaktoren denn eigentlich die wirksamen sind, stieß sie ohne Absicht auf ein merkwürdiges Faktum: Jene großen Lieblingsfaktoren haben offenbar ein viel geringeres Gewicht, als man immer gemeint hat, und das besonders beim IQ.

Die Umweltvarianz nämlich läßt sich durch geeignete weitere Vergleiche in zwei Teile zerlegen: die «geteilten» und die «nichtgeteilten» Umweltfaktoren. «Geteilte Umwelteinflüsse sind die, denen alle Familienmitglieder ausgesetzt sind und die ihre Ähnlichkeit bei einem bestimmten Merkmal erhöhen, während nichtgeteilte Umwelteinflüsse von allen Familienmitgliedern auf eigene Art erlebt werden und dazu führen, daß sie sich voneinander unterscheiden» (der Psychologe David C. Rowe). Jene Lieblingsvariabeln aber gehören alle zu der «geteilten» Art: Die Größe der Familie etwa ist für alle ihre Mitglieder die gleiche, die Schichtzugehörigkeit ist es, und der Lebensstandard wie der Erziehungsstil sind es auch. Diese «geteilten» Einflüsse erzeugen Unterschiede zwischen den Familien, aber nicht zwischen den Geschwistern einer Familie: Sie machen zum Beispiel die Kinder aus reicheren Familien denen aus ärmeren in irgendeiner Hinsicht unähnlich.

Und eben diese «geteilten» Einflüsse verblassen in ihrer Wirksamkeit auf das Individuum mit steigendem Lebensalter. Beim IQ, wo das Phänomen besonders ausgeprägt ist, lassen sich bis zum zwanzigsten Lebensjahr noch etwa 25 bis 30 Prozent der gesamten Varianz, also gut die Hälfte der Umweltvarianz aus «geteilten» Faktoren erklären; danach sinkt deren Anteil gegen Null.

Die entscheidenden, dauerhaften Unterschiede gehen offenbar also gar nicht auf diese großen Lieblingsfaktoren zurück, sondern auf ganz spezielle individuelle Erfahrungen. Auch nahe Verwandte sind dank ihrer einander unähnlich. Man muß es sich bei dem, was Intelligenz genannt und von IQ-Tests erfaßt wird, wohl etwa so vorstellen: Solange Kinder im Elternhaus leben, sind gleichmacherische Einflüsse am Werk – die weniger Intelligenten in der Familie werden gefördert, die Intelligenten gebremst. Gleichzeitig macht jedes Kind, teilweise durch bloßen Zufall, seine ganz eigenen Erfahrungen: Das eine gerät an ein Buch, das seine geistige Neugier in eine Richtung lenkt, die seine Geschwister nie einschlagen; das andere findet Freunde, die es auch geistig ganz anders prägen als das Elternhaus. Und wenn das Kind erwachsen ist, haben sich diese idiosynkratischen Erfahrungen in ihrer Summe als sehr viel stärker erwiesen und das Kind in eine eigene Richtung gedrängt, in die ihnen seine Geschwister nicht folgen.

Es ist eine Erkenntnis, die man eigentlich eher von den Soziologen und Pädagogen und nicht von der Verhaltensgenetik erwartet hätte. Sie nährt Hoffnung und Resignation zugleich. Resignation, weil der, dem die Ungleichheit des IQ ein Dorn im Auge ist, sich nicht viel von der Manipulation der großen Lieblingsfaktoren versprechen kann – eine ökonomische Einebnung der Gesellschaft würde die Intelligenzunterschiede keineswegs beseitigen. Hoffnung, weil offenbar jeder seinen sehr eigenen Weg gehen muß und geht und viele dabei ihr Potential auch unter ungünstigen Umständen verwirklichen.

 

 

Literatur

 

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